Eine “Utopie” in Italien

Aus Rom wird berichtet, daß das öffentliche Interesse in Italien durch die Entdeckung einer utopistischcn Gesellschaft sehr erregt ist, die sich in Ascona, einem kleinen Ort an der italienisch-schweizerischen Grenze, gebildet hat. Diese wenig zahlreiche Gesellschaft — sie hat nur achtunddreißig Mitglieder — glaubt, das Problem, wie man glücklich lebt, gelöst zu haben. Zur Erreichung ihres Zieles haben sich die Mitglieder verpflichtet, gewisse sehr einfache Lebensregeln zu beobachten, die sie in der Tat seit drei Jahren befolgen. Sie essen kein Fleisch, sondern leben von Früchten und Kräutern, und sie tragen ein sehr einfaches Gewand und niemals einen Hut. Es gibt auch sechzehn Frauen in der Sekte. Sie erkennen keine anderen Gesetze an als die der Natur und — spielen mit Vorliebe Wagner. Der Gründer der Gesellschaft ist ein Belgier. Jedes neue Mitglied muß den Besitz einer hinreichenden Summe zum Ankauf eines Terrains, dessen Bebauung zu seinem Unterhalt genug liefert, nachweisen. Jedenfalls liegt in diesen bald da bald dort unternommenen Versuchen, das Heil in einer vereinfachten Lebensweise zu suchem eine gesunde Abkehr von unserer naturwidrigen Ueberfeinerung des Lebens.

Ostdeutsche Rundschau, 14. Jahrg., 20. Juni 1903, Nr. 167, S. 6. Online