Abseits des Weges (Auszug)

Schon in Berlin hatte ich von einer solchen Stätte am Lago Maggiore als von etwas Hervorragendem reden gehört. Hier am See in einer Pension, in der auch die Vegetarier eine Rolle spielen, sprach man von dieser Stätte mit jener Mischung von Neugier und Ironie, wie sie ungewöhnliche und sensatioinelle Zustände hervorrufen. An einem nicht allzu trüben Morgen dieses nicht übererfreulichen Märzes bestieg ich mein Rad und fuhr auf einer der brillantesten Radfahrstraßen der Welt den See entlang bis zu seinem Abschluß, bis da, wo die Bergriesen des Hintergrundes sich in sanfte Hügelreihen abwellen. Hier schlug ich den Weg aufwärts ein und kam aus wohlgehaltener Straße bis zu einer ganz öde und verlassen im Walde stehenden Kirche. Denn schöne Waldung bedeckt die nach Norden abfallende Seite des Hügels. Der Weg aber, den ich gefahren, schien sich in Holzschlag und Felsgeklüft zu verlieren. Ich bin ihm dann freilich auf der Spitze des Hügels wieder begegnet. Ich selbst aber ließ mein Rad unter dem Schlitze der Kirche, der eine wundertuende Madonna vorsteht (ich habe es in ihrem Schatten unversehrt wiedergefunden), und kletterte entschlossen den steilen Abhang hinauf, von dessen Höhe etwas Hölzernes herabwinkte. So gelangte ich an eine hohe Bretterverzäunung, die ein weitläufiges Plateau umzieht. Wer die Heidenmaner kennt, die Sankt Odilien im Elsaß umschließt, der kennt etwas Aehnliches in Stein. Lange umwanderte ich die Umzäunung, bis ich an die nach dem See abfallende Westseite gelangte. Und dann trat ich durch die Pforte dieser Einsamkeit, vorbei an einem Pförtnerhaus, dem ein bürgerlich gekleidetes Fräulein vorsteht, die mich nach dem Hauptbau geleitete.

Ein tempelartiger Holzbau von geschmackvoller Einfachheit, darinnen die üblichen sozialen Räume. Die Wohnungen der Menschen aber sind in Pavillons etc., Lufthütten genannt, über den sich dehnenden Grasplatz und die Baumgruppen des Parkes verteilt, für einen oder zwei, je nachdem Schicksal oder Laune sie zusammengefügt hat, in herber, aber geschmacklicher Einfachheit. Ueberall die Empfindung ungestörter Ruhe und Abgeschlossenheit. Schon scheint die Welt ganz hinter uns zu liegen. Die Kost ist streng vegetarisch, jeder sucht sich aus dem Speisezettel des Tages selbst die Mahlzeiten aus, die er genießen will. Und er findet sie zu der von ihm angegebenen Zeit in einer für ihn bestimmten Lade des Speisesaales. Er mag sie verzehren, wo er will an den kleinen Tischen des Speisesaales, in seiner Lufthütte in den für Mann und Weib geschiedenen Parks für Luft- und Sonnenbäder. Sie sind der Stolz der Anstalt, mit Turn- und Spielgerät, Lawntennisplätzen ansgestattet, auch zu allerhand Gartenarbeit Gelegenheit bietend. Hier verbringen in paradiesischem Kostüm die Bewohner die Stunden des Tages, sich der Sonne erfreuend und der Luft, die von See und Bergen weht. Keine Kellner, nach Trinkgeld schauend, kein vigilierender Portier. Nach Möglichkeit bedient sich jeder hier selbst.

Menschen sah ich nur vereinzelt. Die Anstalt ist nur auf wenige eingerichtet, und sie schien mir nicht einmal voll besucht. Zwei stattliche Männer, einer blond, der andere schwarz, Haar und Bart wallend, mit Kniehose und hemdartiger Jacke bekleidet, die Häupter der Anstalt, übernahmen hintereinander meine Führung. Stilvoll standen sie vor dem Holzbau des Tempels. Auch eine jugendlich hohe Frauengestalt in der Tracht griechischer Göttinnen sah ich vorbeiwallen. Dann wieder ein paar mehr bürgerlich gekleidete Erscheinungen. Man zeigte mir einen alten Herrn: “Es ist ein Amerikaner, neunundachtzig alt und jetzt erst zu unserer Lebensweise übergetreten.” Ich wagte die Bemerkung: “Wie gesund muß er sein, wenn er neunundachtzig Jahre in falscher Diät ausgehalten hat!” Und dann fügte ich schüchtern hinzu: “Wer weiß, wie a!t er wäre, hätte er früher damit begonnen? Vielleicht jetzt schon einhundertneunundzwanzig.” Der verständige Mann überhörte den Scherz.

Der schwarze Meister setzte mir die Pläne auseinander, die er befolgt, hochfliegende Pläne. Eine Vereiniguug der Besten und Edelsten strebt er an, von Männern und Frauen der Wissenschaft, der Literatur und Kirnst. Zwanglos wie die körperliche Erscheinung soll auch der geistige Verkehr sein. Ganz uud voll und ohne Rückhalt soll sich hier, jeden Zwanges enthoben, der Mensch geben können. Ich entnahm so etwas wie die weiland vielberufene freie Gemeinschalt in Schlachtensee, die in der Luft vollkommener Zwanglosigkeit zerflatterte. Zu den Gästen gehört im Augenblick ein Berliner Doktor und Stadtverordneter Singerscher Richtung. Ein berühmter Berliner Bildhauer, Max Kruse, ist gewillt, sein Atelier hierher zu verlegen. Ich habe das aus seinem eigenen Munde, und mein Führer bestätigte mir, daß die Vorbereitungen im Zuge sind.

Ich bin über diese Anstalt etwas weitläufiger geworden, als ich beabsichtigte. Ich weiß nicht, ob es eine Reklame ist. Für die Meisten wird es wohl abschreckend wirken; denn der Weg zum Glück und Wohlbefinden, der hier geboten werden soll, geht über Entbehrungen aller Art. Eintreten werden hier, wie in ähnliche Anstalten, wohl vorzugsweise außer Kranken, die Genesung suchen, solche, die. durch das ungeheuere, sich stets vermehrende Gepäck erdrückt, das der Mensch durch das Leben schleppt, diese Last einmal oder dauernd von sich abschütteln wollen, Menschen, die auf die Welt verzichtend, Ruhe und Einkehr in sich selbst suchen, solche, die mit Horaz ausrufen: “Ich fand den Hafen, Glück und Hoffnung fahret dahin!”

Friedrich Dernburg, Berliner Tageblatt, 34. Jahrg., 2. April 1905, Nr. 170. Online: Abseits des Weges.