Monte Verità (Berliner Tageblatt)

Wir erhalten folgende Zuschrift mit der Bitte um Aufnahme:

“Das kürzlich im ‘Berl. Tagebl.’ erschienene Feuilleton “Abseits vom Wege” hat die Beschreibung des Sanatoriums Monte Verità in der Südschweiz aum Gegenstande. Mit der gewandten Feder eines toleranlen Kritikers bemüht sich Friedrich Dernburg, neue Erscheinungen im gesamten Lebensbild mit objektivem Blick in die Entwickelungsgeschichte der Menschheit einzureihen; trotzdem finden wir eine stellenweise sehr irrtümliche Auffassung der Ziele dieses mit dem Namen ‘Kulturkloster’ bezeichneten Unternehmens, sodaß die hierzu Berufenen sich veranlagt fühlen, zum Nutzen der von ihnen vertretenen Ziele berichtigend und ergänzend zu erwidern.

Wie ist es auch möglich, während eines meist halb- oder selbst mehrstündigen Besuches, den uns Interessenten abstatten, die aus einer Summe vieljähriger Erfahrungen und tonzentrierten Allgemeinbetrachtungen geborenen Ziele ganz zu verstehe» und in das weitverzweigte System einer auf Regeneration des entarteten Menschengeschlechts ausgebauten Organisation einzudringen? Solche flüchtigen Besuche haben oft die mächtigsten Ausdeutungen zur Folge. Unter dem auf Schiffen und Eisenbahn verkehrenden Reisepublikum erzählt man sich von einer “Sekte”, die da oben auf dem Berge hause; die Worte “Eremiten”, “sauvages”, “penitenti”, “NaturmenschenN gehen von Mund zu Munde, und mit scheue» Blicken, mit Empfindungen der Mißachtung oder des Bedauerns mißt man den Hügel, wo Lebeuskluge ihr Eldorado aufgeschlagen, wo Lust am Leben wieder aufwacht und weiter blickt, wo anstatt Dogmatik Gewissensreligion und Denkfreiheit herrschen, wohin solche meist wiederkehren, die einmal diese Schule für wahres Leben betraten, und wohin so mancher Spötter mit der Zeit selbst den Weg gesunde». Vom Habitus der Mode in Kleidung und Haartracht abweichende Erscheinungen mit sonnengebräunten Gesichtern werden für “Einwanderer aus Kanada” oder “Egypter”, selbst für “Indianer” oder “Zigeuner” erklärt. Der in der Gesellschaft vorherrschende Mangel an Toleranz, an Achtung individuellen Rechtes der Einzelexistenz führt zu den böswilligstn» Gerüchten. Man vermutet freiwillige Büßer unter den Bewohnern des Monte Verità zucht- uud ordnungslose Menschen, solche, die dort nach zügellosen Wanderjahren der Einholung vergeudeter Kräfie leben nnd neuen Versuchungen aus dem Wege gehen wollen. Selbst die milde Kritik eines Dernburg bezeichnet die seinem Ange fremden Gestalten als solche, die, “auf die Welt verzichtend, Ruhe und Einkehr in sich selbst suchen, solche, die mit Horaz ausrufen: “Ich fand den Hafen, Glück und Hofnung, fahret dahin!”

Mit dem Namen “Kulturkloster” belegt Dernburg eine Einrichtung, die Gesundheit schafft an Stelle von Krankheit, Glücksempfinden anstatt Verzweiflung, Hoffnung für Verzicht. Kloster bedeutet freiwilliges Entsagen auf alles Lebenspendende, Lebenfördernde, die Ertötung des “Ich” und all seiner Entwickelungsmöglichkeiten. Wir wollen genau das Gegenteil, wir sind Eklektiker und beanspruchen für uns die besten nnd reinsten aller körperlichen und geistige» Lebensgenüsse. “Der Weg zum Glück und Wohlbefinden, der hier geboten werden soll, geht über Entbehrungen aller Art” sagt Dernburg. Es kommt hier anf die Relativität der Begriffe an; doch sind wir überzeugt, daß die Mehrzahl unserer Mitmenschen es nicht als Entbehrung empfinden werden, wenn sie sich ihrer Stehkragen, Mieder, Hüte, Handschuhe oder sonstiger Modefesseln entledigen und ihren Körper den rettenden Einflüssen der Luft nnd der Sonne zuführen oder in kleidsame Gewänder hüllen können und daß sie in dem Tausch von animalischer Kost, Alkohol und anderen schädlichen Getränken gegen reinste Pflanzen- und Fruchtnahrnng höchstens eine zu ändernde Gewohnheit erblicken. Nur Luxus und alle schädigenden Einflüsse einer falschen Kultur entbehren wir gern; wir fliehen die Städte als Brutherd von Elend und Not, von Krankheit und Laster, von quälenden Vorurteilen. Ja, “hochfliegende Pläne” begleiten unser Tagewerk — doch nur, wer hoch fliegt, kann Hohes erreichen. Der Monte Verità soll Kindern eine Reformschule im fortgeschrittensten Sinne bieten, Industrien für wahre Kulturbedürfnisse sollen ins Leben gerufen, und die Kunst nicht aus Not, die Kunst aus Liebe geboren, soll hier gepflegt werden. Wir trachten, unsere Bibliothek mit den Schöpfungen der besten Tagesliteratnr zu versehen, unser Verkehr mit der Außenwelt ist sehr rege, Arbeit und Zerstreuung kürzen hier das Leben in wechselvollster Weise. Ist das Abgeschiedenheit, ist das Entsagung oder Entbehrurg?

Sanatorium Monte Verità
Ida Hofman-Oedenkoven

Wir haben vorstehender Zuschrift Raum gegeben, da das Feuilleton Friedrich Dernburgs sich bei der Besprechung verschiedener Kulturerscheinungen unter anderem mit dem Sanatorium Monte Verita beschäftigte, zwar ohne es zu nennen, aber doch für jeden Kundigen leicht erkennbar. Dem aufmerksamen Leser wird indessen nicht entgehen, daß die Zuschrist gerade daS bestätigt, was sie beanstanden zu sollen meint. Wir brauchen das nicht besonders zu belegen. Daß mit dein Ausdruck “modernes Kulturklofter” nicht eine mittelalterlich angehauchte Zwangsanstalt gemeint sein kann, liegt auf der Hand. Die Analogie wird in der auf gemeinsamer Ueberzeugung beruhenden gemeinsamen Lebensordnung und den in der Zuschrift kräftig genug betonten besonderen ethischen Zielen gesunden. Was dabei gemeint ist, wird durch den Vergleich mit der Neuen Gemeinschast in Schlachtensee bei Berlin noch weiter illustriert, die wohl niemand je als eine entsagende Zwangsanstalt angesehen hat. Ob die Lebensordnung, in deren Befolgung Monte Verità körperliche und geistige Gesundheit verspricht, Entbehrungen auferlegt oder nicht, ist in des Wortes eigentlichem Sinn Geschmackssache. Denn die “reinste Pflanzen- und Fruchtuahrung” ist ein Vegetarismus strengster Obersvanz, der alles Tierische und alle Reizmittel ausschließt und daS Schwergewicht der Ernährung auf Rohkost legt. In dem Dernburgschen Feuilleton ist übrigens ausgesprochen, daß, wenn man die auf Monte Vertà verfolgten Grundsätze billigen sollte, die Bedingungen zur Ausführung auf Einrichtungen, Lage und Leitung daselbst glückliche sind. Demnach beruht die ganze Anfechtung auf zu weit getrieber Empfindlichkeit oder aus Mißverständnis.

Berliner Tageblatt, 34. Jahrg., 16. Mai 1905, Nr. 247, S. 9. Online

Die Zuschrift ist eine Entgegnung auf den Beitrag Abseits des Weges von Friedrich Dernburg im Berliner Tageblatt vom 2. April 1905.