Ein Schweizerreise im Naturkostüm

Transskript

Askona, (Mittwoch, 7. August.)

Am andern Morgen legte ich die noch bleibenden 2-3 Stunden bis Askona unter fortwährenden Regengüssen und schwerer Luft zurück. Ponte Brolla, wo die nun stattliche Maggia zwischen tief ausgespülten Felsen, wiederum die prachtvollsten Bassins bildend, eine scharfe Kurve gegen den Langensee beschreibt, öffnet sich der Blick nach Locarno und dem jenseitigen Monte Verità über dem dahinter versteckten Askona. Die Landschaft war in der dunkeln Gewitterstimmung, aus der die weißen Kirchtürme von Cavigliano und Versaccio geisterhaft hervorblitzen, von melancholisch-fremdartigem Reiz. Unter strömendem Regen zog ich dann an den üppigen Wein- und Melonen-Pflanzungen Solduno’s vorüber zum letzten Male über die Maggia, die man aber hier in ihrem gezähmten Zustand kaum wieder erkennt, nach Askona. Jenseits der Brücke begegnete mir der erste “Naturmensch”, ein schöngebauter junger Mann mit prächtigem Blondhaar, in hellen Kniehosen und ebensolchem Röckchen kräftig barfuß ausschreitend.

Den “Monte Verità”, ursprünglich eine vegetarische Colonie, nun ein vegetabilisches Sanatorium (wo es nur Vegetabilien, also keine Milch und Eier, überhaupt nichts vom Tier gibt), hatte ich schon vor drei Jahren besucht. Sehr schön gelegen und den Langensee, soweit es von seinem Nordende möglich, beherrschend, hat doch die Landschaft für mich etwas eintöniges, schweres, fast düsteres. Leider war der Besitzer, Hr. Oedenkoven, mit seiner Frau eben abwesend. Dafür wurde ich von seinem Stellvertreter, Hr. de Beauclair, auf’s freundlichste empfangen und in das Anstaltsleben eingeführt. Das Mittagessen, das man sich in etwas umständlicher Weise schriftlich bestellt, schmeckte recht gut und bestand aus verschiedenen rohen Früchten und Salaten, gekochtem Gemüse und Nüssen mit Brot. Mir sagten besonders die frischen Feigen mit Zitronensaft und Zucker gegessen sehr zu. Wer natürlich aus seiner gewöhnlichen Lebensweise an diesen Tisch kommt, dem wird anfangs etwas bänglich zu Mute und es ist nicht zu verwundern, wenn manche gleich wieder Reißaus nehmen. Andere aber fühlen sich, wenn sie einmal den ersten Schrecken überwunden haben, sehr wohl dabei und werden mancherlei Gebrechen los. Außer der Diät wird natürlich das Luft- und Sonnenbad mit den dazugehörigen Wasseranwendungen gepflegt, wofür ausgedehnte Anlagen zur Verfügung stehen.

Askona besitzt für Naturmenschen und vegetarier eine besondere Anziehungskraft und die ganze Umgegend wimmelt von dieser menschenklasse, von denen sich manche ständig hier niedergelassen haben. Am bekanntesten ist die Naturmenschenfamile Gräser, die wenig unterhalb des Sanaoriums wohnen und die ich vor 3 Jahren auch schon besucht hatte. Ich muß gestehen, daß mir damals die Geschichte ziemlich verrückt vorkam und ich nicht recht begreifen konnte, daß Leopold Wölfling, ein früherer Waffenkamerad des ehemaligen österreichischen Offiziers Karl Gräser, diesem Leben und Treiben Geschmack abgewinnen konnte. Er war damals mit seiner inzwischen von ihm geschiedenen Frau gerade auf Besuch bei Gräsers. Auch was ich seither gehört, war nicht dazu angetan, mich mit großem Vertrauen zu erfüllen.

Bei meinem diesmaligen Besuch aber bekam ich einen ganz anderen Eindruck. Schon von weitem war ich überrascht, als ich die im italienischen Charakter ausgebauten und zum Teil mit Blech, zum Teil mit Steindach versehenen Häuser durch das Laub schimmern sah. Vor 3 Jahren hatten die Leute nämlich noch in Ruinen gewohnt. Solche Ruinen finden sich hier in ziemlicher Anzahl zerstreut im Walde – Askona soll im Mittelalter auf dem Berg gestanden haben – und manche Vegeatrier richten sich darin häuslich ein, denen die Mittel oder der Sinn für größeren Comfort abgeht. Karl Gräser fand ich eifrig damit beschäftigt, in dem einen Hause, worin sich unten die Werkstatt mit Hobelbank etc. und oben die Ausstellung des jüngsten Bruders Ernst, des Malers, befindet, einen Cementboden zu legen. Er erzählte mir, daß er das Wohnhaus mit Hülfe von Arbeitern selbst ausgebaut habe nach eigenem Geschmack. Die Holzarbeiten hatte er zum Teil ganz allein gemacht, so die sehr originell aus Baumstämmen und Aesten hergestellten Möbel. Für die Lehne der außen zum ersten Stock haeraufführenden Treppe und das Balkongeländer war ein ganzer Baum benutzt worden, was eine sehr malerische Wirkung hervorbrachte. Das Ganze hat nun etwas durchaus Wohnliches und fügt sich harmonisch in die Landschaft ein. Auch die Obstanlagen des Grunstückes scheinen gut gepflegt, es finden sich Pfirsiche, Feigen, Mandeln, Erdbeeren, Aepfel, Birnen etc. und alles ist nach eigenen Erfahrungen und sorgfältiger Ueberlegung eingerichtet. Da keine Tiere gehalten werden, die Mist liefern, wird alles Gras zu Compost gemacht, was bekanntlich einen vorzüglichen Dung abgibt, der alle notwendigen Stoffe in richtiger Mischung enthält. Auch eine ziemlich ausgedehnte Bienenzucht wird betrieben. Kurz, so einfach und primitiv alles ist, so ist es eben doch selber errungen, mühsam und allmählich sich und den Verhältnissen abgerungen, und hat darum einen besondern Wert. Man ist selber etwas dabei geworden und dies gilt hier als der einzige Zweck, alles andere ist dazu nur Mittel. Gräser macht nichts gedankenlos nach, sondern grübelt an allem herum, studiert und probiert fortwährend. Dadurch, daß er überhaupt alles selbst herzustellen sucht, lernt er die Dinge von Grund aus kennen und findet oft neue Wege und Formen. Seine Sandalen z. B. sind sehr praktisch und bequem, dazu schön, und endlich sehr dauerhaft. Im Sandalenmachen besitzt er, nebenbei gesagt, schon eine große Fertigkeit und verfertigt ein Paar in erstaunlich kurzer Zeit. Auch seine Tracht, die er beim Ausgehen anlegt, ist neu, einfach und durchaus schön. Sein Sinn ist nicht blos auf das Praktische gerichtet, sondern auch auf das Künstlerische, das ist seine Besonderheit und übrigens Familien-Erbteil, das allen drei Brüdern eigen. Gräser ist der Meinung, daß das immerwährende Kaufen und Andere machen lassen uns vom Leben, von der Wirklichkeit loslöst und innerer Armut und schliesslich dem Ruin zutreibt. Man wird und wächst nicht dabei, Hand und Auge und Verstand werden nicht geübt und verkümmern. Man pflegt nur Theorie statt Praxis: liest und schreibt und spricht, aber tut nicht, und darum lernt und wird man nicht, und lebt eigentlich nicht. Man will nur genießen und geht zu Grunde an seiner Faulheit, es fehlt die gesunderhaltende, kräftigende Arbeit.

Es ist nicht zu leugnen, daß Gräser im Grunde Recht hat. Dem Menschen sollte viel weniger in die Hand gegeben, er vielmehr in der Jugend zum Selbermachen angeleitet werden um seiner selbst willen. Letzteres sollte die Hauptaufgabe der ganzen Erziehung sein. Später wählt er sich dann einen Zweig aus und macht seinen Beruf daraus. So würde der unseligen Zersplitterung von heute gesteuert und ein gewisser Zusammenhang gewahrt, der für die moralische gesundheit unerläßlich. So kämen auch alle Fähigkeiten zur Entfaltung und die Menschen in kurzer Zeit unendlich weiter. Mit den Grundarbeiten des menschen würde jeder vertraut und würde sie auch sein Lebenlang beibehalten, denn ein normaler Mensch ohne Gartenbau ist undenkbar, Jedermann muß Spaten und Axt und Säge zu handhaben wissen. Das Wandern ist schön und der gesundheit sehr zuträglich, doch nur dann wenn der Mensch ein Heim hat, daß er pflegt und baut. Und neben der Arbeit tritt dann auch das Spiel in seine Rechte.

Gräser selbst sind diese Gedanken erst nach und nach recht klar geworden. Früher wußte er nicht deutlich, was er wollte, sondern folgte mehr einem dunklen Drange. Seine Rede war verworrener und er tat auch manchen Mißgriff, wie er jetzt einsieht. Seitdem ihm die freundlich-verständige Mutter das hauswesen führt führt, geht es ihm auch äußerlich besser. Zudem hilft ihre Pension finanziell noch etwas nach, da die Pflanzung noch zu jung, um die Brüder ganz zu ernähren.

Der jüngste Bruder scheint recht begabt zu sein und manch ansprechendes Bild hängt in der interessanten Ausstellung, die auch Sachen des mittleren Bruders Gustav enthält, der früher ebenfalls malte. Leider dunkelte es schon, als ich die Ausstellung betrat und die Besichtigung wurde dadurch beeinträchtigt. Gusto, groß und stattlich, der schönste der drei, der überall Aufsehen erregt, wo er mit seinem wallenden Haar und Mantel erscheint, dabei einfach wie die andern, wenn auch etwas theatralischer, hat sich im letzten Jahre mit Schiffsbau beschäftigt und ein schönes und wie man sich denken kann hochoriginelles Boot gebaut. Es hängt unten am See unter einer Torwölbung an der Luft, indessen sein Erbauer auf Reisen gegangen und alles stehen gelassen, als ob er sich eben entfernt; da liegen noch die Werkzeuge, die er benützt und da steht auch sein Lager, da er Tag und Nacht hier hauste. Merkwürdigerweise wird ihm nichts gestohlen, die Askonesen mögen ihn gut leiden, wenn sie auch nicht an sein Schiff glauben, sondern behaupten es werde nicht schwimmen. Es wird sich zeigen, wenn der Stapellauf stattfindet, und ob es G. Gräser wirklich ernst ist mit seinem Plan, das Boot als sein Wohnhaus zu benützen und darin die Welt zu bereisen.

Noch einen einzelnen Vegetarier lernte ich in Askona kennen, der unten am See an der Straße nach Brissago eine neue kleine Villa bewohnt und zu dem mich ein Bekannter, den ich zufällig dort traf, hinführte. Das Häuschen ist reizend gelegen und obwohl ziemlich hart unter der Straße, merkt man doch von deren Anwesenheit nichts, sondern sieht bloß den blauen träumerischen See gerade zu Füßen und weit in die Runde sich dehnen. Er ist der einzige Freund, den man hier hat, sonst weder Nachbar zur Linken noch zur Rechten, man ist allein auf ihn angewiesen und es muß sich bald ein inniges Verhältnis zwischen ihm und den Bewohnern der Villa entspinnen. Das ist in der Tat ein stiller Port für einen ergrauten Lebenskämpfer, der den Rest seiner Tage in Tuhe und lieblicher Einsamkeit verträumen will. Der Besitzer, in dem ich sogleich den blondhaarigen jungen Mann wieder erkannte, den ich vor Askona angetroffen, möchte die Villa verkaufen und wieder nach Samoa gehen, wo er Landbesitz hat. Er führte uns auf den das Häuschen umgebenden Terrassen herum, die steil zum See abfallen, und wo er prächtige Feigen und Melonen zieht. Die Sonne entwickelt hier eine große Kraft und ich sah Feigenbäumchen von 1 1/2 m Höhe, die dieses Frühjahr aus Samen aufgeschossen. Die Anlage ist in vortrefflichem Zustand und verrät die kundige Hand des erfahrenen Praktikers. Ich erkannte in Herrn F. einen etwas andern Typus des Lebensreformers, den energischen tatkräftigen Mann, der in Folge einer harmonischen Charakteranlage, Geschicklichkeit und umsichtiger Benützung aller Vorteile es zu etwas bringt; praktischer und nüchterner als Gräser, aber ohne dessen künstlerische Art.

Dann bestiegen wir zu Dritt das Boot der Villa und ruderten hinaus nach den 2 kleinen reizenden Inseln, die 1/2 Stunde im See draußen liegen und einer russischen Gräfin gehören. Es war ein prachtvoller heißer Tag und die Sonne funkelte auf den glatten See, war aber trotzdem wohlerträglich. Am Ziel angelangt, nahmen wir ein Bad in den lauen Fluten, das Wasser war von großer Weichheit und doch erfrischend. Dann ruderten wir nackt zurück.

Uber die Vegetarierniederlassungen in Askona wurde in letzter Zeit wieder viel Lärm geschlagen in den zeitungen. Es erschienen Spottartikel, in denen die Naturmenschen in Grund und Boden verdammt und lächerlich gemacht waren, in italienischen Blättern soll namentlich gegen das Sanatorium wütend gehetzt worden sein. Dann wieder folgten andere Stimmen, die die leute und ihr Treiben in Schutz nahmen und über den Monte Verità viel Lobenswertes berichteten. Aus all dem scheint mir mit Sicherheit hervorzugenen, daß die Welt an den Versuchen einer Lebens-Reform, wie sie in Askona gemacht werden, regen Anteil nimmt, wenn auch fast wider Willen oder ohne es sich einzugestehen, ja dieselben mit Spannung verfolgt, weil sie im Grunde mit sich selbst sehr unzufrieden und von einer tiefen Sehnsucht nach besseren Zuständen erfüllt ist.

Gesundheit, 10. Jahrg., 17. August 1909, Nr. 16, S. 194-197.

Der Beitrag von Theodor Stern über die Fussreise im Sommer 1907 erschien in mehreren Folgen.

Zum Autor

Stern und der Monte Verità

Im Sommer 1903 oder 1904 besuchten Ida Hofmann und Henri Oedenkoven ihn in Zürich. Ida Hofmann schreibt über den Waidberg, “wo wir endlich einer praktischen Durchführung unserer Ideale näher rücken”:

Pfarrer Stern hat auf luftiger und waldiger Höhe oberhalb Zürich einen sehr reizvollen Lichtlufthain angelegt – auf einer grossen Wiese, nur durch dichten Tannenwald von aussen abgeschlossen, tummeln sich nackte Männergestalten und Frauen in luftigen Hemden – sie jagen Bällen nach; es ist gerade Sonntag und viele Züricher schliessen sich für den ganzen oder halben Tag diesem idyllischen Leben an; wir lernen angenehme und weitvolle Menschen kennen und die Trennung fällt uns schwer.1

Stern besuchte den Monte Verità ein erstes Mal 1905. Ein weiterer Besuch folgte im August 1907. Nachgewiesen ist auch sein Besuch im August 1907. (Locarno et ses Environs. Fremdenblatt mit offizieller Fremdenliste. Visitors’ Journal and Official List, Nr. 32, 17. August 1907.)

  1. Hofmann, Monte Verità. Wahrheit ohne Dichtung, S. 65. []