Monte Verità. Berg der Wahrheit

Bilder aus Asconas Vergangenheit

Von etlichen begeistert begrüßt, von etlichen verspottet, von vielen mißverstanden worden ist das vor vierzig Jahren gegründete Unternehmen jener Menschen, die ausgezogen waren, um auf dem von ihnen benannten Monte Verità bei Ascona eine Naturheilanstalt zu gründen. Auf der Suche nach freier Natur, nach Sonne, nach Einfachheit und Gesundung waren sie dahingelangt, die damalige Gesellschaftsordnung zu verneinen. Gesund kleiden! Gesund ernähren! Damals waren das revolutionäre Schlachtrufe. Und wie bei allen Handlungen, die aus Leidenschaft geboren sind, so übertrieben die “Naturmenschen von Ascona” ihre als richtig erkannten Ansichten, sie ließen die Haare wachsen, wie sie wachsen wollten, sie ernährten sich “aus der Tüte”, und es ergab sich ganz von selbst, daß ein Strom von Nichtstuern, von verschrobenen und überspannten Sonderlingen sich zu ihnen gesellte, neben vielen, die von ernstem Suchen nach Erkenntnissen, nach der Wahrheit erfüllt waren. Ascona errang durch seine Besucher eine etwas geheimnisvolle Weltberühmtheit. Außenseiter, Künstler, Philosophen, Theosophen, Vegetarier, politische Flüchtlinge, Okkultisten, Edelanarchisten, Sensationslüsterne, berühmte, große und interessante Leute aus allen Teilen der Erde und solche, die es gerne gewesen wären — unzählige haben von der seltsamen Atmosphäre getrunken und haben selber auch Atmosphäre gegeben. Die Tessiner Bevölkerung sah dem Treiben auf dem Monte Verità mit dem Interesse des Südländers an Sensation, Phantastik, Theater zu; im allgemeinen betrachtete sie die Langhaarigen als harmlose Narren. Es war für die Reformer nicht leicht, die breite Oeffentlichkeit über das Ernsthafte der reformerischen Bestrebungen aufzuklären. Die tollen Gerüchte, die über Ascona — das enfant terrible der Schweiz — in Umlauf waren, wurden lieber gehört als die Erlöserformen der Vegetabilier. Neben praktischer Arbeit blühte ein reges geistiges und künstlerisches Leben auf dem berüchtigten Berge; phantastische Pläne wurden ausgeheckt, ein Ordenstempel wurde gegründet, große Ideen und Narreteien lösten einander ab, bis die finanziellen Schwierigkeiten immer mehr in den Vordergrund rückten — im Januar 1920 verließ der Gründer der Kolonie, Henri Oedenkoven, Ascona; seine Kraft hatte nicht gereicht, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, obwohl er seine ganze Persönlichkeit, großen Idealismus und viele Mittel dem Berge der Wahrheit geopfert hatte. Heute wird der Berg von Feriengästen besucht, die vielfach ahnungslos über Stätten schreiten, wo sich vor wenigen Jahrzehnten Tragödien und Komödien abgespielt haben, die ihresgleichen auf der Welt suchen. Der Berg der Wahrheit sieht auch den heutigen Dramen gelassen zu; er hat zu viel miterlebt, um sich wundern zu können.

Ed. Keller, Zürcher Illustrierte, 15. Jahrg., 7. Juni 1940, Nr. 23, S. 603-604. Online