Ascona, die Hauptstadt der psychopathischen Internationale

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Im Sommer 1907 fuhren Lydia Petrowna und ich nach Ascona in die Ferien. Wir lebten dort auf Monte Veritä bei dem Naturheiligenapostel Oedenkoven. Nicht Anhängerschaft an das “System Oedenkoven”, sondern die prächtige Lage und das Leben in Freiheit hatten uns dahin gelockt. Ascona war damals noch kein vornehmer Vorort von Berlin, sondern die Hauptstadt der psychopathischen Internationale. Schön war es auf alle Fälle, daß man zum Abendessen nicht in Lackschuhen und im Smoking zu erscheinen hatte. Es genügte die Badehose. Weniger schön schien es uns, daß wir für unsere 7 Franken pro Tag und Person nichts anderes bekamen als Hasel-, Baum- und Paranüsse und rohes Obst. Auch noch eine Art Brot. Durch Schmuggeldienste eines Sekretärs gelang es uns, Milch und Eier zu bekommen, was sonst bei Strafe der Ausweisung verboten war. Wir gingen sogar Fleisch holen in die Stadt, bis uns einmal der vegeto-orthodoxe Petersburger Professor Wojekoff beim Kochen von «Leichenfraß» überraschte und uns ernsthaft zusprach. Diejenigen, die als brav gelten und doch auf Fische und Fleisch nicht verzichten wollten, für die gab es in einem Restaurant im Dorf eine im ersten Stock gelegene heimliche Fisch- und Fleischpension, wo man guten Nostranowein kriegte. Dort fand man auch Erich Mühsam, der wartete, ob nicht bald ein Abgesandter einer seiner hundert Erbtanten erscheine, um ihm alle Herrlichkeiten der Welt zu bringen. In diesem Restaurant hat er mir eines seiner Dramen vorgelesen und hat mir klargemacht, daß die Liebe zu Frauen verwerflich sei, da diese nach Häringslacke riechen.

Er war übrigens ein prächtiger Kerl. Durch ihn habe ich die neueren Bücher Kropotkins kennengelernt, und er hat mich in die neueste deutsche Literatur eingeweiht. Er liebte ganz besonders Scheerbart. Ich mochte ihn gut leiden. Hätte aber damals nicht daran gedacht, daß er sich im späteren Leben als einer der tapfersten Revolutionäre bezeigen würde.

Oedenkoven selber habe ich wenig gekannt. Er war nur ein paar Tage mit uns zusammen. Aber auch er machte mir einen sehr guten Eindruck. All diese Leute haben vieles vorweggenommen von dem, was später Mode geworden ist. Sie haben die Sonne zu einer Zeit entdeckt, wo die Aerzte ihr kaum Aufmerksamkeit schenkten; lange, bevor Rollier die Sonnenkuren einführte, kultivierten sie schon die Naturheiligen. Lange, bevor die ärztliche Wissenschaft die Bedeutung der Rohkost auch nur diskutierte, machten sie Rohkostkuren. Auch das Wasser ist erst durch die Naturheiligen recht zur Geltung gekommen. Oedenkovens haben sich auch um die Rhythmik gekümmert, bevor ihr offizieller Tag gekommen war.

Ursprünglich hatte Oedenkoven eine ganz neue Welt, eine Art Kolonie neuer Menschen schaffen wollen, die sich ökonomisch selber erhielte. Mir scheint es, man wollte sogar wieder zur Naturalwirtschaft zurückkehren, womöglich alles selber produzieren, was man brauchte, und wollte der ganzen Welt den Rat geben, das gleiche zu tun. Wie viele solcher Versuche, hat das Ganze dann sein Ende gefunden in einem privatwirtschaftlichen Unternehmen.

Erich Mühsam hat all die Asconesen der ersten Zeit geschildert in einem kleinen Büchlein, das besser diese kleine, aber interessante Welt wiedergab, als ich es tun könnte.

Fritz Brupbacher, 60 Jahre Ketzer. Selbstbiographie. “Ich log so wenig als möglich”, Zürich 1935.

Über den Autor

Fritz Brupbacher studierte an den Universitäten in Zürich und Genf. Er führte eine Praxis in Zürich-Aussersihl. Gleichzeitig war er politisch aktiv, wurde allerdings sowohl aus der Sozialdemokratischen wie später auch der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.