Baron von Wrangell †

Baron von Wrangell †

Im Alter von 76 Jahren starb, wie bereits in der „N. Z. Z.“ notiert, am 3. Dezember d. J. in Ascona auf dem Hügel in seiner Villa Baron Ferdinand von Wrangell. Ein reiches und tätiges Leben hat damit seinen Abschluß gefunden. Aus einem Geschlechte entsprossen, welches sowohl Deutschland als auch Rußland berühmte Träger dieses Namens gegeben hat, wurde er in der baltischen Linie als Sohn des Entdeckers der Wrangell-Land Inseln, des spätern Verwesers des laiserlich-russischen Marineministeriums, Baron Wrangell, geboren. Aus diesen Umständen heraus empfing dann sein gesamtes späteres Leben die Anregungen und Richtung zur Betätigung seines glänzend begabten Geistes. So sehen wir ihn denn ununterbrochen auf staatlichem und wissenschaftlichem Gebiete erfolgreich tätig sein, indem er schon als junger Marineoffizier durch seine hervorragende wissenschaftliche Begabung die Aufmerksamkeit auf sich lenkte und vom Marineministerium nach England und Amerika zum Studium marinetechnischer Fragen geschickt wird; indem er später, nachdem er seinen Abschied als Marineoffizier genommen hat, zum Inspektor und darauf Direktor des kaiserlichen Alexanderlyzeums in Petersburg ernannt wird; wie er zum Erzieher eines großfürstlichen Prinzen berufen und beratendes Mitglied im Marine-Conseil wird.

Doch alle diese hohen und ehrenvollen Stellungen vermochten nicht, das seltene Bild eines freiheitlich und im besten Sinne human fühlenden und denkenden Herzens zu verrücken oder gar zu unterdrücken. Alle, die ihn hier in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens gekannt haben, werden sich nicht dem erfrischenden, ja oft erheben den Eindruck seiner mit jugendlichem Feuer durchglühten Persönlichkeit haben entziehen können, die immer die Wahrheit, das Gute und die echte Freiheit vertrat.

Als dann der große Krieg kam, mit seinen ungeheuren Fragen, da war der Vestorbene einer der ersten, die erkannten, daß nur ein allge meiner Völkerbund imstande sei, in Zukunft solche Katastrophen zu verhüten. Und unermũdlich hat er dann durch Wort und Schrift für diesen Gedanken und für seine Ausbreitung gewirkt. Da ihn sein Gerechtigkeitssinn die Schuld in diesem Krieg nicht nur auf einer Seite sehen ließ, so brachte er diese Ueberzeugung auch öffentlich zum Ausdruck. Und gerade dieses rückhaltlose Eintreten für seine Ueberzegung hat ihm manchen Angriff, manche persönliche Kränkung zugezogen. Aber mit derselben noblen, ürberlegenen Manier mit der er im persönlichen Verkehr diesen Dingen die Spitze abzubrechen wußte, behandelte er auch seine politischen Gegner in der Oeffentlichteit: immer sachlich auf ihre Einwände eingehend, beleuchtete er die Fragen immer so vielseitig und gründlich, daß man sich der Richtigkeit oder zum mindesten dem Wertvollen seiner Argumentation nicht entziehen konnte.

Darbei war sein Geist von einer selten vorkommenden Vielseitigkeit und Begabung. Es gab wohl kein Gebiet des Lebens, auf dem er nicht orientiert war. Auf den meisten ist er produktiv und publizistsch tätig gewesen – sogar auf dem der dramatischen Poeste. Und es war ein besonderer Genuß, seinen Vorträgen zu lauschen oder im persönlichen Gespräch seinen immer wohldurchdachten Ausfürhrungen zu folgen. Sein nimmermüder Geist war bis in die letzten Tage seines Lebens mit den großen Problemen des Lebens beschäftigt; und an dem Ausgleich der unvollkommenen menschlichen Einrichtungen mit den sittlichen Forderungen unseres Gemütes zu arbeiten, erschien ihm als eine der höchsten und verdienstvollsten Aufgaben. Diesem Ziel ist denn auch seine Lebensarbeit gewidmet gewesen. Seinen zahlreichen Veröffentlichungen historischer und politischer Natur, seine vielen Zeitungsaufsätze in der schweizerischen und deattschen Presse zeugen davon. Er wollte im besten Sinne ein Vermittler der gegensätzlichen Standpuntkte sein – als „Europeus“ unterzeichnete er sich denn auch in vielen seiner Schriften.

Und dieser freundliche und gütige Mensch, der sich im persönlichen Leben so einfach und humorvoll gab, dem wir alle so viele anregende und nachdenkliche Stunden verdanken, der besonders der Kolonie von Ascona – ich möchte fast sagen als geistiger Mittelpunkt galt – der ist nun von uns geschieden. Trauernd, aber dankbar, schauen wir in der Erinnerung auf ihn zurück. Aus dem überreichen Schatze seines Geistes und Herzens hat er uns das Beste hinterlassen als Beispel: ein hohes redliches Wollen und ein unermüdliches Vollbringen des Guten.

Seine sterblichen Ueberrefte sind dem Feuer übergeben. Aber sein Geist lebt weiter in seinen Gedanken und Schriften und in unserem Bewußtsein von der Unzerstörbarkeit der geistigen Welt, die ihn nun wieder in sich aufgenonmmen hat.

Ein Landsmann

Neue Zürcher Zeitung, 140. Jahrg., 25. Dezember 1919, Nr. 2034, S. 9. Online