Das Ende eines Herzensromans

Man erinnert sich des gewaltigen Aufsehens, welches vor nun genau vier Jahren die Liebesgeschichte des Erzherzogs Leopold Ferdinand von Toskana, seine Flucht nach der Schweiz seine Abdikation als Erzherzog und seine Vermählung mit Wilhelmine Adamovich hervorrief. Der Prinz hatte damals den bürgerlichen Namen Leopold Wölfling angenommen und sich mit seiner Gattin in Zug niedergelassen, wo sie von seinen Renten lebten und ihre abenteuerlicher Roman schon halb und halb vergessen worden war. Zu gleicher Zeit spielte sich auch die Flucht von Erzherzogs Schwester, der Kronprinzessin von Sachsen, nunmehrigen Gräfin Montignoso, ab, welche mit ihrem Bruder vereint in die Schweiz gegangen war und deren Schicksale lange genug die Oeffentlichkeit beschäftigt haben.

Aus Zürich wird nun authentisch gemeldet, daß Leopold Wölfling, der frühere Erzherzog Leopold Ferdinand, sich von seiner Frau, der früheren Sängerin Wilhelmine Adamovich scheiden lassen wolle und daß das Paar auch bereits seit einiger Zeit auseinander gegangen ist. Leopold Wölfling hat bereits vor einigen Tagen die Stadt Zug, in der er ein Anwesen erworben hatte, verlassen und sich an die Riviera begeben, während seine Gattin in Zug zurückgeblieben ist. Gerichtliche Schritte zur Trennung der Ehe sind bis jetzt noch nicht eingeleitet.

Die Eheschliessung zwischen Erzherzog Leopold Ferdinand und Wilhelmine Adamovich hat seinerzeit großes Aufsehen hervorgerufen. Es war vor vier Jahren, unmittelbar vor Weihnachten des Jahres 1902, als die Flucht der Kronprinzessin Louise von Sachsen, die mit Giron, dem Sprachlehrer ihrer Kinder, geflohen war, bekannt wurde. Mit der Kronprinzessin Louise zugleich traf auch ihr Bruder Erzherzog Leopold Ferdinand in Begleitung seiner Freundin Wilhelmine Adamovich in Genf ein. Der Erzherzog äußerte schon damals den Wunsch, auf seine Zugehörigkeit zum Kaiserhause Verzicht zu leisten und als Bürgerlicher unter dem Namen Leopold Wölfling die Adamovich zu heiraten. Wilhelmine Adamovich entstammt einer Brünner Beamtenfamilie. Sie war Sängerin, als sie der Erzherzog kennen lernte. Vor ihrer Reise nach Genf bewohnte sie in Wien eine Villa im Cottage, die der Erzherzog Leopold hatte luxuriös einrichten lassen.

Nach seiner Eheschließung erstrebte Leopold Wölfling das Schweizer Bürgerrecht. Nun heißt es, daß er die Ehe lösen und seiner Frau eine hohe Geldentschädigung bieten will. Ob er nach Durchführung der Ehescheidung auch nach Oesterreich zurückkehren wird, ist noch unbestimmt.

Die Ursachen der Abneigung des Herrn Leopold Wölfling gegen seine Gattin sind lediglich in dem unüberbrückbaren geistigen Gegensatz zu erblicken, der zwischen der Geisteskultur des hochgebildeten Leopold Wölfling und der geistigen Armut seiner Frau gelegen ist. Vergebens bemühte sich Wöfling, das geistige Niveau seiner Lebensgefährtin zu heben und durch Erziehung und Belehrung auf die geistige Entwicklung der Frau einzuwirken. Mit Mühe brachte er ihr die Kunst bei, zu schreiben. Frau Wölfling hatte kein Interesse für die wissenschaftlichen Bestrebungen ihres Mannes, sondern lediglich für die bescheidenen Bedürfnisse ihres Heims. Sie verminderte diese Bedürfnisse noch durch ihre fanatische Neigung zum Vegetarianismus. Seit langer Zeit zwang sie ihren Gatten, der Fleischnahrung zu entsagen.

Aber der Vegetarianismus entartete bei Frau Wöfling noch weiter. Er langte bei der sogenannten “naturgemäßen Lebensweise” an. Frau Wölfling hatte die Bekanntschaft von einigen Leuten gemacht, darunter einem ehemaligen österreichischen Offizier und seiner Frau, welche Anhänger der “naturgemäßen Lebensweise” sind. Dieselbe besteht darin, so wenig und so einfach als möglich zu essen, und sich nur notdürftig zu bekleiden, alle Verrichtungen sich selbst ohne fremde Beihilfe zu machen, selbst die einfache Wohnstätte sich allein herzustellen.

Im Tessiner Kanton bei Ascona hatte sich die Kolonie der Naturmenschen niedergelassen, welche große Anziehungskraft auf Frau Wölfling ausübte. Die Leute leben in Lehmhütten oder in Höhlen, welche tief in den Boden hineingegraben werden. Im Sommer bildet ein Feld das Wohnhaus dieser Familien, welche von der Kantonalregierung des Tessin die Erlaubnis zur Ansiedlung erhalten haben. Mehrere Familien leben hier das Leben von Naturmenschen. Da sie nichts Böses stiften, ehrlich sind und friedlich leben, läßt die Kantonalregierung sie ungestört ihr “Naturleben” führen. Die Leute ziehen kaum Kleidung an und die wenigen Fetzen, welche sie am Leibe haben, um ihre Blößen zu bedecken, haben sie selbst hergestellt.

Zu diesen Naturmenschen pilgert Madame Wölfling oft und oft nach Ascona. Allmählich ist sie, wie gesagt, vom Vegetarianismus zur sogenannten “naturgemäßen Lebensweise” übergegangen und sie hat ihr ganzes Haus danach eingerichtet.

Wenn Wölfling sich diesen Versuchen entziehen wollte, gab es heftige Szenen zwischen den Ehegatten. Wölfling fügte sich insofern, als er sich mit der Pflanzennahrung begnügte, aber er leistete energischen Widerstand gegenüber den Versuchen, ihn auf das Niveau der Naturmenschen hinabzuziehen. Seine Beziehungen zu seiner Frau wurden immer unerträglicher, da die Manie der Frau Wölfling in förmlichen Fanatismus ausgeartet war.

Frau Adamovich-Wölfling ist bekanntlich die Tochter eines Postbeamten, der einen kleinen Gehalt bezog und mit zahlreicher Familie gesegnet war. Sie hatte ihre Mutter früh verloren und mußte, ohne vorher eine besondere Ausbildung genossen zu haben, das Vaterhaus verlassen und sich nach einem Lebenserwerb umsehen. So kam sie in jungen Jahren in dienende Stellung. In Osmütz nahm sie hierauf eine Stelle als Kassierin in einem kleinen Kaffeehause an, dann kam sie nach Wien und hier hat sie Leopold Wölfling, der damalige Erzherzog Leopold, kennen gelernt.

So endigt in nüchternster Prosa der Liebesroman eines Prinzen mit einem Mädchen aus dem Volke, das sich der Hochgeborene allerdings aus zu weiter Tiefe der Gesellschaft ausgewählt hatte. Es gibt eben Kulturstufen, welche auch die leidenschaftlichste Liebe nicht zu überbrücken vermag….

Wiener Bilder. Illustriertes Familienblatt, Nr. 1, 2. Jänner 1907, XII. Jahrgang, S. 4-5. Online: Wiener Bilder, 2. Januar 1907.