Bilder von meiner Wanderfahrt (Nr. 8)

Ende Mai und Anfangs Juni waren wir in Locarno-Ascona. Die Besitzer der Sanatorien waren äusserst gastfreundlich. Fast tagtäglich hatte ich einen Vortrag zu halten. Dazu verlebten wir herrliche Stunden im Kreise lieber Gesinnungsfreunde. Wir freuen uns hier für die frohen, in Locarno-Ascona-Monte Verità verlebten Tage unseren herzlichsten Dank ausdrücken zu können den Herren Bek, Rathgen, Engelmann, Cardinal, Trings, [[Vladimir Straskraba|Straskraba]], Dr. Rascher, Carl Gräser, Ödenkofen, Reichstagsabgeordneten Otto Rühle, Dr. Albert, sowie Frau Dr. Fischer-Dückelmann. Überall hat es uns ganz ausgezeichnet gemundet. Die Rohkostspeisen‚ die Herr Bek erfunden, sind äusserst bekömmlich – ich freue mich, hier konstatieren zu können, dass unser Photograph, Freund Graser‚ Herrn Bek wegen seiner Kochkunst so lieb gewann, dass er nur ungern mit uns weiter zog. Wie oft mussten wir, wenn wir in Italien späterhin nichts besonderes zu essen bekamen, aus seinem Munde hören: “Habt’r a Getu! Wärt’r beim Bek geblieb’n!” Nicht minder konnte Freund Beckmann die Küche des Herrn Engelmann rühmen, bei dem er einquartiert war. Herr Engelmann bot uns sonst noch mancherlei, was wir, nicht alle Tage haben können: einen Wagnerabend und vieles aus seiner geistigen Schatzkammer. Wertvoll waren uns die Stunden, die wir mit seinem Schwiegersohn, Herrn Rathgen und Frau verbrachten. Rathgen ist ein Pflanzenfreund und Ägyptologe, seine Frau eine echte, tief angelegte Theosophin; ihre kräftigen Vegetariernachkommen erquickten unser Auge. Unter Palmen und Musa wandelten wir in seinem duftigen Garten, in dem ein kleines Krokodil unter Papyruspflanzen in einem zierlichen Weiher lebt. Herr und Frau Kardinal würzten unsere Anwesenheit mit frohem Humor und mit – duftigen Erdbeeren. –

In Ascona konnten wir besonders die prächtigen weiten Sonnenbäder des Herrn Trings, der auch ein trefflich eingerichtetes Sanatorium besitzt, bewundern. Die “Heidelbeere” mit ihrem weitgereisten Besitzer, Herrn Straskraba, zeigt ein echtes, frohes Vegetarierheim und bietet für wenig Geld eine kräftige Hausmannskost. – –

Aus Leipzig wurde kürzlich ein Mann ausgewiesen, der durch seine kräftigen Verse in Reformerkreisen und weit über sie hinaus nicht minder bekannt ist, als durch seine Kleidung, sein Eigenkleid und seine eignen Sitten und Gewohnheiten – Gusto Gräser. Er führt draussen keinen leichten Kampf für seine Überzeugung, mit Weib und Kind. Hier oben aber, auf dem Monte Verità hat sein Bruder sich niedergelassen nachdem er den Soldatenrock – er war höherer österreichischer Offizier – ausgezogen‚ und führt nun ein Leben als Eigenmensch. Ein regnerischer Tag führte uns zu ihm. Wir fanden ihn grabend in seinem Garten. Als wir uns näherten, blickte er auf und wir schauten in ein Gesicht voll sonniger Tiefe, von einem schwarzen Bart harmonisch umrahmt. Um Wangen, Ohren und Hals fielen schwarze Locken. Er nahm den Hut ab, den er zum Schutz gegen den Regen getragen, reichte uns die Hand und ging mit uns ins Haus, wo er uns freundlich zum Niedersetzen einlud. Es war ein eigenartiger Raum, in dem wir uns befanden – ebenso eigenartig wie das Äussere des Hauses‚ der Garten, wie alles, was damit zusammenhing, genauso eigenartig, wie der Mensch‚ der da vor uns stand und uns mit seinen tiefen, aber herzlichen Blicken durchdringend betrachtete. – –

Und dann sahen wir etwas, was wir vorher noch nie gesehen: Alles in diesem Haus und um dies Haus war von Gräsers Hand selbst gefertigt, ohne jegliche fremde Beihilfe.

Die Möbel des Zimmers, indem wir uns niedergesetzt hatten, waren aus knorrigen Baumästen gefertigt, die Gräser selbst ausgegraben hatte, selbst zugehauen, geleimt und genagelt. Da waren Tische und Stühle und allerlei anderes Gerät. Im oberen Zimmer waren Bettstellen – alle auf die gleiche Art angefertigt. Der Ofen und der Backofen waren selbst gemauert. Der Stoff, aus dem Gräsers Kleider bestehen‚ war ehedem Samen in seiner Hand. Geschliffene Aprikosenkerne oder Dattelkerne bildeten die Knöpfe.

Ludwig Ankenbrand, in: Die Lebenskunst, 16. April 1913, Nr. 8, S. 195-196.