Tessiner Saisonbilder (Auszug)

Mitten auf der Kantonalstraße, die nach Locarno führt, macht das Auto plötzlich halt. Ein Paar, sonderbare Gestalten, steiqt ein. Weiße Wollgewänder umhüllen die gravitätischen Erscheinungen bis zn den unbedeckten, sandalenbewehrten Füßen. Lange blonde Haare locken sich bei Männlein und Weiblein bis zu den Schultern. Unbekümmert um die zudringlichen Blicke der Mitinsassen beginnen die Beiden eine Unterhaltung – zu meiner Überraschung im reinsten Hochdeutsch.

Da raunt mir mein Nachbar, ein biederer Schweizer, zu: “Nu, äbbe, Naturmenschen aus Ascona!” Und er verbreitet sich über die Künstler-Vegetarierkolonie in dieseiit bescheidenen Luftkurort unweit Locarnos. Steil bergan, über kaum erklimmbare Felsenstufen führt der Weg zu dem Gasthaus dieser fleischverschmähenden Kurgäste, die ihren schmalen Geldbeutel möglichst langzustrecken genötigt sind. Die kleine, im Buschwerk halbversteckte Pension ist mir von Vorkriegszeiten wohlbekannt, und ihr Prospekt gehört zu den eigenartigsten meiner Sammlung. Unter dem Leitmotiv: “Du sollst nicht töten!” – d. h. keine der menschlichen Ernährung dienenden Tiere – steht die Speisenliste, aus Früchten, Salat und Backwerk zu minimalen Preisen bestehend. Darunter prangt der Vers:
Brot und Backwerk schmeckt sehr gut,
Im Hause man es backen tut;
Stets zu haben ist Salat
Und ein gutes, warmes Bad.
Als Aufnahimebedingung gilt der eindrucksvolle Schlußsatz: „Juwelen-Pfauen, Mode-Affen, Geld-, Titel- und Ordensprotze», parfümierte Wiedehöpfchen, Nikotin- und Alkohol-Sklaven ist der Eintritt nur in desinfiziertem Zustande gestattet.”

Eine recht drastische Propaganda für das Naturmenschengasthaus, wo man sich freiwillig der Enthaltsamkeit befleißigt, die in unserer deutschen Heimat, ach, seit langen Monden als bitterer Zwang sich zeigt….

M. Doering, Berliner Börsen-Zeitung, 64. Jahrg., 1. Mai 1919, Nr. 197. Online