Am Sonntag nach dem Nachtessen stiegen wir dann auf den Monte Verità. Es war ein warmer Somnmerabend. Aus versteckten Villen und tropischenen Parkanlagen tönte Mandolinenklang und süßer Geigenton strömte voll in die von Blütendurft erfüllte Luft. — Der Mond glitzerte in magischer Pracht über den Wassern unb jenseits des Sees flimmerten die Lichter der Dörfer. Aus der Halle des Hotels Monte Verità, das mit seinen fünfzehn Chalets wundervoll in natürlichen Parkanlagen gelegen ist, tönte Musik. Aus dem gewaltigen elektrischen Orchestrion scholl der Pilgerchor aus Tannhäuser. Dann kam irgendeine moderne Tanzweise und die Paare drehten sich, oder besser gesagt, schoben sich, und hüpften herum. Es war eine fröhliche, ungezwungene Gesellschaft, die wir da oben trafen. Es waren hauptsächlich die „Fremden“ von Ascona, die sich hier gefunden hatten. Deutsche, Deutschschweizer, Franzosen, Engländer, dann auch Asconesen, alles einträchtiglich beisammen. An solchen Orten vernarben am ehesten die Wunden des Krieges und der sinnlose Haß macht der Vernunft Platz. Ja justemänt, auch zwei „tolle“ Bernerinnen waren da, und sie sagten mir, daß sie auch schon im Gantrist und im Seelital mit uns Ski gefahren seien. Jetzt aind sie schon bald ein Jahr hier, es gefalle ihnen so gut, daß sie Bern samt den Lauben und was drum und dran hängt, schon ganz vergessen hätten. Und glaube mir nur, es würde mir auch so gehen, wenn ich das Glück hätte, längere Zeit hier im gesegneten Lande weilen zu können. Und alles ift so ungeniert hier, man kann sich gerade so geben, wie man wirklich ist. Niemand ist so affektiert, sich durch Aeußerlichkeiten den Anschein von Bildung, Intelligenz und Reichttum geben zu wollen. Dichter, Maler, Sänger, berühmte Häupter von Namen kannst Du da hemdärmelig auf dem Monte Verità tanzen und im Stätdchen umhergehen sehen. Und obschon hier viele gute ehrliche Künstler sind, suchst Du vergebens nach Schlapphut, La-Vallière-Kravatten und Sammtwams. Diese Sachen, die bei so vielen soi-disant-Musensöhnen das Genie erfetzen müssen, haben die hier weilenden Künstler nicht nötig. Und darum ist es gerade so heimelig hier. Alle diese „Fremden“ wissen und schätzen es: Es lebt sich glücklich in Ascona! — Von den überspannten Seelen, die sich vor Jahren auf dem Monte Verità eingenistet hatten und die in härenem Gewand oder auch ohne ein solches umherliefen und sich von den Beeren des Waldes und von den Früchten der Felder anderer Leute nährten, ist jetzt nichts mehr zu merken. Sie sind mit dem Krieg verschwundenen. — Da ist nur noch eine Familie, die in Bezug auf Mode und Sitte etwas aparte Ansichten hat, und zuweilen kommt die Tochter — eine brünhildenhafte Gestalt — in wallendem Gewand, mit offenen Haaren und Blumenkranz ums Haupt ins Städtcben hinab. Sie ist aber sehr harmlos und lieb und schenkt allen Leuten Blumen. —
Emil Balmer, Die Berner Woche in Wort und Bild, 10. Jahrg., 25. September 1920, Nr. 39, S. 464-465. Online
Beim hier wiedergegebenen Text handelt es sich um einen Ausschnitt.