Der “Berg der Wahrheit”

Wilhelm der Zweite und Letzte hat die Absicht, sich auf dem “Berg der Wahrheit” in der Schweiz niederzu lassen. Bravo! Dort gehört dieser Mann auch hin! Die Landschaft auf dem Monte Verita ist paradiesisch, beson ders im Sommer, wenn die Eidechsen auf den heißen Steinen liegen, wenn die Johanniswürmer nächtens über den Wiesen leuchten, wenn die Millionen von Fröschen ihre Jubelmusik quaken und wenn die goldgesprengelten Molche sich in den kleinen Gräben der glühenden Hitze erfreuten. Außer den Molchen, den Eidechsen, den Schlangen und den Riesenfröschen gab es auf dem Monte Verita zu allen Zeiten begeisterte Maler, und manche hatten so gar Talent. Allerdings hatten die meisten niemals Geld, und nirgends in der Welt ist so viel gepumpt worden wie auf dem Monte Verita. Man weiß eigentlich nicht recht, was Wilhelm dort tun soll. Doch man weiß ganz genau, was er dort tun wird, denn er hat ja wohl erfahren, daß auf dem Monte Verita seit vielen Jahren die freie Liebe mit Inbrunst und außerordentlichem Talent gepflegt wird. Vor einigen Jahren war der reichste Herr auf dem Wahrheitsberg ein okkultistischer Belgier, der nicht nur mit dem lieben Gott und mit der ganzen Armee der Engel zum mindesten stiefbrüderlich verkehrte, sondern sich auch durch eine sehr irdische Weiberarmee — durchliebte. Dieser bel gische Herr des Wahrheitsberges hat auch das Hotel gebaut, in dem augenblicklich Wilhelm II. geratene un[d] ungeratene Söhne wohnen, vielleicht, um für, den Herrn Papa Quartier zu machen. Keine gute Seele braucht auf dem Berg der Wahrheit unterzugehen. Denn allgemein wird dorten an die Seelenwanderung geglaubt. Die alten Damen meinen, daß sie wieder als liebliche Kätzchen nach ihrem Tod auf die Erde zurückkehren werden, und die Schnorrer, die übrigens einer Familie mit den Faulenzern sind, hoffen, daß ihre künftige Inkarnation sie zu Kaisern machen wird. Sollte Wilhelm II. also Gelegenheit haben, ein Ehrenbürger des Monte Verita zu werden, so wird ihm zahlreiche Gelegenheit geboten sein, die künftigen Erben seiner Macht zu studieren.

Tagblatt (Linz), 11. Jarhg., 29. Oktober 1926, Nr. 251, S. 5. Online