Monte di Verita

Von Alice Berndt

Der Monte di Verità wird von Ascona in wenigen Minuten erreicht. Von Locarno ist der Weg bedeutend länger. Wählt man jedoch den bequemeren Waldweg und steigt durch die Weingärten empor, so gelangt man nach kurzer Wanderung in einen herrlichen Naturpark und genießt einen köstlichen Fernblick. Man überschaut den nördlichen Teil des Lago Maggiore. Locarno. in den Bergen Orselina, Brione und in der Ferne verdämmernd Contrà. Unten dehnt sich das weite, fruchtbare Anschwemmungsgebiet der Maggia. Im Süden leuchtet einem das romanitische Bergnest Ronco entgegen und Porto-Ronco mit den beiden lieblichen, vorgelagerten Inseln, dahinter Brissago mit dem breiten Rücken des Schmugglerberges. Weithin aber blaut der See und man sieht tief hinein in das italienische Land.

Der Monte di Verità ist berühmt wegen dieser Aussicht. Er ist aber nicht nur berühmt. Er ist auch berüchtigt. Wenn man der Sache näher nachgeht, so merkt man, daß die Leute, die den Monte di Verità in Verruf gebracht haben (auch Ascona hat Anteil an diesem Ruf), gar nicht mchr da sind. Es ist fast nur noch ein Märchen. Es war einmal…

Vor etwa 25 Jahren gab es, wie der Wirt auf dem Monte di Verità versichert, hier wirklich eine ganz merkwrdige Generation, die durch ihre Gewohnheiten alle guten Staatsbürger erschreckte. Diese Leute, zumeist wohlhabende Notländer und Deutsche, kamen hierher, um an der Grenze von Italien und der Schweiz, in einer klimatisch bevorzugten Gegend, eine Kultur einzuführen, die darin bestand, jegliche Kultur von vornherein abzulehnen. Dazu gehörte in erster Linie die Kleidung. Sie gingen, in den von ihnen selbst gezimmerten Blockhäusern, völlig nackt, wie Adam vor dem Sündenfall. Sieließen [sic!] ihr Haar wachsen, so lang es wollte, und nährten sich von selbst gepflanztem Gemüse und den Beeren und Kräutern des Waldes. Sie bildeten eine kleine Republik über der Republik. Um den Staat kümmerten sie sich weiter nicht und zahlten keine Steuern.

Da begann sich der Staat um sie zu kümmern. Die Schweiz konnte sich mit Gästen dieser Art nicht befreunden und sie wurden gezwungen, in dem Augenblick, wo sie ihre Wohnstätten verließen, sich mit einem Mantel und Sandalen zu bekleiden. Diese Vorschriften sollen die Ursache gewesen sein, daß die kleine Gemeinde sich wieder zerstreute und tiefer in die Berge gegen die italienische Grenze zurückzog.

Ab und zu bemerkt man heute noch auf dem Wochenmarkt in Locarno einem Naturmenschen dieser Art. Er trägt langes, herabwallendes, blondes Haar und sein nackter Körper ist in einen Mantel gehüllt, den ein Gurt zusammenhält. Er besorgt seine Einkäufe und verschwindet dann wieder in den Bergen. Dieser Mensch ist ein armseliger versprengter Rest jener ersten, fast sagenhaft gewordenen Generation des Monte di Verità.

Die zweite Generation des Monte di Verità ist bei weitem dekadenter, denn sie verschmäht es nicht, sich zu bekleiden. Sie bewohnen die kleinen, niedlichen Blockhäuser und leben wie ihre Vorfahren vegetarisch. Aber sie haben sich auf diese Art der Ernährung nicht festgelegt aus philosophischer Überlegung oder gar aus philosophischer Überlegenheit, sondern nur wegen der Knappheit ihrer Mittel. Dafür schreiben viele von ihnen Memoiren, deklamieren eigene Gedichte, komponieren moderne Musik, malen kubistisch und kneten gewaltige Figuren aus Ton. Der Monte di Verità ist noch heute eine europäische Raritätenkammer, in der gelegentlich ein paar Exoten nicht fehlen. Er ist noch immer eine Republik über der Republik und seine Bewohner ärgern jeden Philister durch die Freiheit ihrer Moral.

Vor allen Dingen sind die Menschen auf dem Monte di Verità nicht das, was sie zu sein scheinen. Da humpelt auf einem Krückstock eine alte, ärmlich gekleidete Frau herum, die Südfrüchte verkauft. Eine tessiniiche Bäuerin? Plötzlich hört man, daß die Frau ein glänzendes Französisch spricht. Sie ist keine Bäuerin, sondern die Schwester des russischen Generals Wrangel, die unterhalb Ascona in einem kleinen Häuschen wohnt und kümmerlich ihr Leben fristet.

Neben einem Blockhaus ruht in einem rohseidenen Pyjama eine junge Dame mit einem Bubikopf und blinzelt in die Sonne. Sie ist ganz rot gebrannt. Man staunt über die Kraft der tessinischen Sonne. Aber da erfährt man, daß die tessinische Sonne gar nicht schuld ist an dem seltsamen Kolorit: Die Dame ist eine malaische Prinzessin, die den Winter über in St. Moritz ein fashionables Leben geführt hat und nun auf dem Monte di Verità ganz im Verborgenen blüht.

Ein kleiner, vierrädriger Wagen, auf dem sich eine Brutmaschine befindet, erregt die Aufmerksamkeit der Prinzessin. Er wird von einem bildhübschen, blonden, jungen Mann gezogen. Er machte vor der exotischen Prinzessin Halt, sie springt auf, begrüßt ihn und setzt sich neben ihn auf den Wagen. Man staunt über das geringe Standesbewußtsein der Prinzessin, die mit einem tessinischen Bauernburschen so vertraut ist. Aber wenn man sich näher erkundigt, so hört man, daß es gar kein tessinischcr Bauernbursch ist, der die Brutmaschine gezogen hat. Es ist ein junger Dichter aus Dänemark. Er besitzt eine kleine Farm zwischcn Ascona und Ronco. Dreihundert Hühner, die fleißig Eier legen setzen ihn in den Stand, sorglos zu leben und Dramen zu dichten, um die in Dänemark sich kein Mensch kümmert.

Der junge Dichter verabschiedet sich von der Prinzessin und zieht mit seiner Brutmaschine weiter. Es befinden sich auf dem Monte di Verità zwar noch einige dänische Nachtigallen, aber der Dramatiker schert sich nicht um den lyrischen Chor, sondern bleibt vor einer Hütte stehen, vor der eine junge Dame sitzt und schreibt. Wenn man näher hinschaut, so sieht man. daß man sich getäuscht hat. Sie schreibt nicht. Sie komponiert. Es ist dies eine andere Merkwürdigkeit des Monte di Verità, Fräulein Sluyper aus Amsterdam. Sie ist noch viel interessanter als die malaische Prinzessin. Fräulein Sluyper aus Amsterdam komponiert Sonaten. Ihr Ohr ist wie der feinste Radioempfänger, der alle Melodien, die burch die Lüfte schwirren, auffängt, sie dann in kleinen zierlichen Noten festzubannen sucht. Wenn sie jemand um ein Autogramm bittet, so zeichnet sie neben ihren Namen einen Violinschlüssel und ein paar in die Luft steigende Nojen, die schon auf dem Papier aussehen wie der Triller einer Lerche. Es ist der Anfang einer Sonate, die (Fräulein Sluyper hofft es) einmal berühmt wird.

Fräulein Sluyper unterscheidet sich von den übrigen Bewohnern des Monte di Verità dadurch, daß sie nicht vegetarisch lebt. Sie ißt Früchte nur zum Dessert. Punkt l2 Uhr hört Fräulein Sluyper auf zu komponieren. Dann schwebt sie wie ein beschwingter Ariel die steilen Stufen nach Ascona hinunter und wirft sich in den Kraftwagen, der von Brissago kommt. Sie fährt nach Locarno ins Grand-Hotel zur Table-d’hote. Alle Samstage begibt sich diese, mit Mitteln so reich begabte Dame mit dem Kraftwagen nach Luino und besteigt dort den Schnellzug, der nach Mailand geht. Einmal in der Woche wenigstens muß sie eine Oper in der Scala hören. Fräulein Sluyper, die Komponistin, ist sehr intim mit der malaischen Prinzessin. Denn die Prinzessin ist ungemein musikalisch, schwärmt für moderne Musik und spielt mehree in ihrer Heimat beliebte Instrumente.

Am Abend flammen auf dem Monte di Verità verschiedene Lagerfeuer auf. Es werden Maroni gebraten. Gebratene Maroni sind ein sehr beliebtes Menu. Sie kosten nicht viel. Sie sind fast so wohlfeil – wie die Luft. Während die Bewohner des Monte di Verità ihre Maroni verzehren, kreuzt unten auf dem See der italienische Vapore. Sein gewaltiger Scheinwerfer sucht die Wälder und das Wasser nach Schmugglern ab. Mitunter ist der ganze Berg taghell erleuchtet. Dann schließt sich plötzlich das geheimnisvolle, glühende Auge unter auf der Flut und der Vapore wendet sich nach der anderen Seite.

Der Monte di Verità übt auf lebhafte Gemüter eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Sie fühlen sich hier umwittert von einer Atmosphäre der Boheme. St. Moritz ist der fashionabelste Ort in Europa. Dort treffen sich die Leute, die Geld haben. Der Monte di Verità ist ein Zufluchtsort der “Genies”. Hier begegnet man Männern von Geist.

Aber auch diese zweite Generation des Monte di Verità soll verschwinden. Denn der holländische Finanzmann und Kunftmäcen, Baron van der Heidt hat alle Blockhäuser auf dem Monte di Verità aufgekauft und sie den Philosophen seines Landes zum Geschenke gemacht. Im Sommer 1927 wird sich auf dem Monte di Verità eine Philosophen-Plantage erheben. Es ist die die dritte Generation. Ob die Herren aus Holland mehr der ersten Generation ähneln werden oder der zweiten, oder ob sie eine Gattung für sich find, das wird die Zukunft erst lehren. Der Wirt des Monte di Verità hofft, daß ihn die Gelehrten etwas verdienen lassen. Es ist ihm zu wünschen, daß er sich nicht täuscht.

Tagesbote (Brünn), 76. Jahrg., 8. Mai 1926, Nr. 214, S. 3-4. Online