Südland-Utopie

Südland-Utopie

Erinnerungen vom Lago Maggiore.

Wer immer nach dem Schweizer Süden reiste, nach dem sonnendurchfluteten Tessin, der wurde gewarnt — sofern solche Warnung noch zu fruchten schien —, ja nicht dem Zauber von Ascona, den Gefahren seiner Kolonie, zu er liegen. Die Kolonisten wurden als radikale Vegetarier geschildert, als nebelhafte Utopisten, Verächter zum mindesten jeder äußeren Kultur, Praktiker eines wahllosen Zusammenlebens… Aber gerade diese Gefahren scheinen viele angelockt zu haben.

Das Land, in dem die Hochalpen der Schweiz den blauen See grüßen, den Lago Maggiore, der zum größten Teile Italien zugehört, war von altersher durch seine Schönheit berühmt. Man lokalisiert dort Goethes Südland-Träume, besonders die “pädagogische Provinz“ des “Wilhelm Meister“. Man weiß, daß Heinse, Jean Paul, Jakob Burckhardt, Alexander Warsberg, in neuester Zeit Hermann Hesse, dieses wahrhaft hesperische Land mit der Seele gesucht, zu einem guten Teil aber auch in eigener Person aufgesucht haben. Jeder Leser illustrierter Blätter kennt heute schon das phantastisch-schöne Dichterheim Emil Ludwigs über dem See. Aber nicht alle wissen von den seltsamen Siedlungen auf dem nahen Berg, der hundertfünfzig Meter über Ascona liegt.

Er heißt Monte Veritä, Berg der Wahrheit. Henri Oedenkoven, der Sohn einer reichen belgischen Familie, gründete da mit einer deutschen Gefährtin die erste utopische Kolonie — es war in den Neunzigerjahren. Heute ist Oedenkoven nach wiederholten Versuchen, das Heim seiner Zukunftsgläubigen zu sanieren, nach Südamerika ausgewandert, wo er ähnliche Pläne verwirklichen soll. Aus seinem Reich aber ist eine äußerst fashionable Hotel- und Villensiedlung geworden, in der man es sich für einen normalen Schweizer Pensionspreis leisten kann, unter Menschen zu leben, von denen einige noch immer ihren Träumen nachhängen. Einer davon ist der Besitzer dieser ganzen Landschaftsherrlichkeit, der bekannte deutsche Kunstsammler von der Heydt, der einen Teil seiner reichen Sammlungen auf den Berg über Ascona gebracht hat. Wenn einst Erich Mühsam diesen Berg beschrieb, der Niemandsland zu sein schien — die Geschichte der Siedlung, die Robert Landmann heute verfaßt hat (“Monte Verità”, Schultz-Verlag, Berlin) sieht wesentlich anders aus.

Ich aber schließe das Buch, das immerhin ein Unikum vorstellt, und denke zurück an das Ascona, das ich vor Jahren und Jahrzehnten kannte. An den nicht ganz mühelosen Weg, den man damals gehen mußte, um nach Moscia zu dem (damals) kleinen Häuschen Emil Ludwigs zu kommen. An den strahlenden Sonnentag bei Oedenkoven — kaum irgendwo auf der mir be kannten Erde, Sizilien nicht ausgenommen, hat man einen schöneren Blick auf Sonnenland. An die winterliche Kriegsnacht in dem kleinen Post-Gasthof von Ascona, als die Scheinwerfer der nahen italienischen Grenze den See ableuchteten; damals sind besonders viele Nord länder in den Tessin geraten und dort geblieben. Touristen werden von der Gotthardt-Bahn nach Lugano gebracht. Suchende zweigen bei Bellinzona ab und geraten an den Lago Maggiore. Wenn sie Geld in ihren Beutel getan haben, dürfen sie dann getrost einige Wochen Utopisten sein.

Paul Stefan

Die Stunde (Wien), 8. Jahrg., 9. November 1930, Nr. 2300, S. 4. Online