In Nummer 27 des „Nebelspalters“ stand folgende Notiz:
Oeppis für Ascona!
Lieber Nebelspalter,
Hast Du schon einmal ein nacktes Hemd gesehen? Wenn nicht, lies bitte: ….. „aber das nicht allein, der Spieler mußte zeigen und zeigte es, wie der Thron morsch wurde, aus der Krone, die man nie sah, die Edelsteine gefallen, er mußte einen König bildlich bis auf das nackte Hemd ausziehen und bei der Abdankung entwürdigen.“ …..
(Aus der Rezension von Hofmannsthals „Turm“ einer bekannten Schweizerzeitung.)
Die Art Hemden dürfte, meine ich, für die Nacktkultur übrigens sehr geeignet sein! Avis an alle Asconesen.
E. O. H.
Darauf flog uns aus Ascona ein nachdrücklicher Protest zu. Er lautet:
Offener Brief an den Nebi!
Gerne hätte ich Dich mit „Lieber Nebi“ angesprochen, aber das bringe ich heute nicht fertig. Du hast mein und aller senkrechter Asconeser Empfinden tief verletzt. Wie konntest Du diesen …….. (nach Belieben auszufüllen) Anwurf gegen Ascona in Deine sonst so liebenswerten Spalten aufnehmen? Der Eh! Oha! möge uns doch sagen, wo in Ascona Nacktkultur getrieben wird! Hat er vielleicht gesucht und ist verärgert, daß er nicht gefunden hat? Wir, die wir seit Jahren hier wohnen, wissen auf jeden Fall nichts von dergleichen. Sehr ……….. (wiederum nach Belieben auszufüllen), ist der Passus: „Avis an alle Asconesen!“ Dagegen protestieren wir mit allem Ernst und mit allem Nachdruck. Abgesehen von den Einheimischen, die ehrlich und mit Mühen ihr Brot verdienen, leben hier auch sehr viele Künstler von Ruf, die in Zurückgezogenheit ihre Werke schaffen. Es leben hier Emigranten, die vom Schicksal
gehetzt, hier ein bißchen Geborgenheit suchen. Das ist unser Ascona!
Diejenigen, die glauben, hier hemmungslos leben zu können, die ferner empört sind, daß das Tragen von Shorts auf offener Straße nicht gestattet wird, die kommen von ennet dem Gotthard. Die sind aber auch sonst überall zu finden, auch in allen «moralischen» Städten.
Ich habe gesprochen und grüße Dich mit Bitterheit im Herzen. Mein Mann und ich, wir sind Dir keine Unbekannten, auch sind wir langjährige Abonnenten. So haben wir das Recht, Dir ein Licht aufzustecken, wenn Du, der Nebelspalter dich selbst hast vernebeln lassen!
S. M.
Nachwort der Textredaktion: Der Verfasser der harmlosen Notiz kannte und liebte Ascona wohl schon lange bevor der Storch unsere verehrte Mitarbeiterin in einer Morgenfrühe heimlich auf das Fenstersims ihres elterlichen Hauses gelegt hat. Es war am Anfang dieses Jahrhunderts. Der Verfasser hauste damals mit andern Eingeweihten zusammen unter der Obhut Henri Oedenkovens, des Gründers der ganzen spätern Herrlichkeit, in verstreuten Holzhütten oben auf Monte Verità. Die Jüngerschar stelzte in wallenden Pilgerhemden und auf Sandalen einher und machte in solchem Aufzug die Landschaft bis nach Locarno hinein unsicher.
Der Verfasser gesteht offen, daß ihm die heute geübte Mode schon etwas besser gefällt. Die leicht und knapp gekleideten Menschen (vorausgesetzt natürlich, daß sie wohlgestaltet sind!), die in der Sommerschwüle Marina und Lido bevölkern samt ihrer beschwingten Heiterkeit sind der paradiesischen Landschaft ja so viel angemessener, als ihre etwas sauertöpfischen Vorgänger. Der Hinweis auf die Einheimischen, die Künstler und die Emigranten heißt offene Türen einstoßen. „Nacktkultur“ ist, zugegeben, ein plumpes Wort. Wir können uns jedoch kaum vorstellen, daß auch nur ein wirklicher Künstler die unschuldigen Sätze mißverstanden oder gar krumm genommen habe.
Nebelspalter, 69. Jahrg., 29. Juni 1943, Nr. 30, S. 17. Online