Ein grosszügiges Geschenk an den Kanton Tessin
sfd. Der berühmte „Monte Verità“ oberhalb Ascona ist 1956 von seinem Besitzer, Dr. h. c. Baron von der Heydt, dem Kanton Tessin als Eigentum übergeben worden. Es handelt sich dabei um einen Grund von 74 524 m2 mit zwei Hotelgebäuden, Villen, Wald, Wiesen und Parkanlagen im Wert von über 1,5 Millionen Franken sowie um das dazugehörige Inventar. Von der Schenkung ausgenommen sind einige Kunstwerke, besonders asiatische Plastiken, die dazu bestimmt sind, die vom Besitzer dem Museum Rietberg in Zürich vermachte Sammlung zu vervollständigen.
Mit dieser Schenkung hat der aus Elberfeld stammende ehemalige Bankier, der vor dreissig Jahren beinahe gegen seinen Willen Grundeigentümer in Ascona wurde, seiner zweiten Heimat Liebe und Dankbarkeit bezeugen wollen. Die einzige Bedingung, die mit dieser grosszügigen Geste verknüpft wurde, bestand darin, dass der Kanton Tessin aus dem Monte Verità ein kulturelles und künstlerisches Zentrum für bedeutende Veranstaltungen machen soll. Der Kanton hat die Schenkung mit allen ihren fiskalischen und moralischen Verpflichtungen angenommen, nicht ohne dem 74jährigen Gönner gebührend zu danken. Der Donator ist übrigens seit vielen Jahren Bürger von Ascona, und der Tessiner Fremdenort verdankt ihm vieles von seinem heutigen Weltruhm.
Was ist und wie entstand der „Monte Verità? Der Hügel von Ascona hat in den letzten fünfzig Jahren eine einzigartige Geschichte erlebt. Dank seiner unvergleichlichen Lage über dem Langensee, angesichts eines fernen, je nach Jahreszeit in traumhafte Farben gehüllten Bergkranzes, inmitten einer üppigen Vegetation war er prädestiniert, nicht nur im internationalen Fremdenverkehr, sondern auch in der europäischen Kultur eine Rolle zu spielen. Monte Verità – Berg der Wahrheit – ist nicht sein ursprünglicher Name. Noch um die Jahrhundertwende hiess er ganz einfach „Collina“, der Hügel. Schon damals beschäftigte sich der Besitzer, der Tessiner Philosoph und Schriftsteller Alfredo Pioda, mit der Idee, dort eine internationale Stätte für Okkultisten und Philosophen zu errichten. Der Tessiner hatte sogar bereits die Satzungen dieses neuen Kulturzentrums ausgearbeitet. Im ersten Artikel dieser Statuten hiess es: „Zweck der Institution ist die Schaffung eines ruhigen und gesunden Ortes, in einer reinen Atmosphäre, frei von jeder Heuchelei und jedem Materialismus, für diejenigen, welche die innere Einkehr und die Beschaulichkeit pflegen und ihre geistigen Eigenschaften weiter entwickeln möchten.“
Gerade in jener Zeit nahm aber ein Belgier namens Oedenkhowen-Hofmann [sic!], der früher Konsul in Amsterdam war, Besitz von der Hügelkuppe. Er war von seiner Frau begleitet, und bald stiessen Deutsche, Holländer und andere blonde Menschen aus dem Norden zu ihnen. Männer und Frauen trugen lange, auf die Schultern fallende Haare und als Kleidung eine weisse oder braune Tunika. Sie liefen barfuss oder mit Sandalen herum. Durch ihre Lebensgewohnheiten zogen sie den Spott der Einheimischen auf sich. Sie waren die Priester einer neuen Lebensform, sogenannte Naturmenschen, welche die Freikörperkultur und die Enthaltsamkeit pflegten. Fleisch, Alkohol, Wasser und Salz waren von ihnen verpönt. Sie nährten sich ausschliesslich von Früchten und Gemüsen, verbrachten den Tag im Freien, sich an der Sonne und im Wasser badend, und musizierten viel. Prominente aus allen Himmelsrichtungen schlössen sich dieser Gesellschaft an. Ihre Mitglieder beabsichtigten, auf der Collina die „Sonnenstadt“ zu gründen, und begannen mit dem Bau von Holzhäusern und chaletartigen Villen. Die Asconeser nannten sie einfach Vegetariani oder sogar „Matti“, d.h. die Verrückten. Da diese Lebensreformer überzeugt waren, allein die Wahrheit gefunden zu haben, gaben sie der Collina den Namen Monte Verità. Die Bewegung hatte ihre guten Zeiten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Aber ihre Gründer schienen eher für abstrakte als für konkrete Spekulationen geeignet zu sein. Im Jahre 1920 verliess Oedenkhowen Ascona und überliess die Verwaltung seines Besitztums einem Freund, der heute noch als letzter Vegetarianer auf dem Monte wohnt und in Ascona ein selbstgebackenes Gesundheitsbrot verkauft.
Es war im Jahre 1923, als Baron von der Heydt zum erstenmal diesen begnadeten Erdenfleck besuchte. Ein paar Jahre später wurde ihm, ohne dass er sich dafür interessiert hätte, die ganze Liegenschaft zum Kauf angeboten. Er bekam sie unverhofft für die Hälfte des gebotenen Preises. Der Monte Verità, der sich in einem verwahrlosten Zustand befand, erwachte dank der Initiative des jetzigen Besitzers zu neuem Leben. Bald entstand ein moderner, mit viel Geschmack und Kunstsinn ausgestatteter Hotelbau, umgeben von schönen Parkanlagen, der zum Treffpunkt einer auserwählten, kultivierten Gesellschaft aus allen Ländern wurde. Intellektuelle, Politiker, Künstler von Weltrang trafen sich auf dem Monte Verità. Hier wusste der grosse, feinfühlige Kunstsammler uralter Kulturen eine dem Alltag entrückte Atmosphäre zu schaffen. Mit seiner Schenkung wollte Dr. von der Heydt diese Atmosphäre geistiger Erhabenheit auch für die Zukunft erhalten. Der Kanton Tessin hat nun diese schwere, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen.
Camillo Valsangiacomo, Hotel-Revue (Basel), 66. Jahrg., 29. August 1957, Nr. 35, S. 2. Online