Eine Kolonie Naturmenschen

Wenn der Wanderer herniedersteigt vom St. Gotthard, über sich den tiefblauen Himmel des Südens, um sich herum die gewaltigen Bergriesen, unterbrochen von furchtbaren Gebirgstälern, rauschenden Bächen und tosenden Flüssen, unter sich aber den farbenschimmernden Lago Maggiore, an dessen Ufern ein stilles, einfaches Völkchen wohnt, so umfängt es ihn wonnig und warm ob all dieser Schönheit und Anmut.

Ist die Schweiz oftmals eine Ruhestätte für flüchtende und weltmüde Seelen geworden, so gilt dies wohl am meisten von dem freiesten Kanton der freien Schweiz, dem Tessin.

Wie eine andere Welt tut es sich vor unsern Blicken auf, wenn wir, eine halbe Stunde von Locarno entfernt, das kleine Dörfchen Askona betreten. Sind wir schon überrascht von den vielen kleinen Häuschen, die wie Vogelnester einzeln an den schroffen Bergwänden hängen, so noch mehr von den wunderlichen Erscheinungen, die uns auf der Landstraße entgegentreten und uns auf deutsch begrüßen, blonde, große gestalten, Bleichgesichter zwischen den schwarzlockigen braunen Kindern des Südens. Gleich rechts, beim Eingang zum Dorf, führt eine Straße zu dem ungefähr 150 Meter über dem See liegenden Monte Verità. Dies ist der Zentralpunkt einer Niederlassung von Menschen, die durch ihr inneres und äußeres Leben zeigen wollen, wie wir zur Natur zurückkehren müssen. Ein primitiver Bretterzaun umgibt den Hügel und soll diese kleine Welt abschließen von der gewöhnlichen armseligen Menschheit. Aber seine großen Lücken und die oftmals vom Sturm umgerissenen Teile des Zaunes gestatten uns einen freien Einblick, und wir ersparen uns die von jedem Besucher geforderten zwei Frank Eintrittsgeld. – Da eilen sie den Weg entlang, die Männer mit langen, fliegenden Haaren, ein Stirnband umgelegt, mit phantastischen Gewändern, ähnlich wie die Hirten am Jordan; Frauen in hemdartigen Kleidern; alle ohne Strumpf und Schuh. Dort ist eine Abteilung, die sich mit Gartenarbeit beschäftigt, Frauen und Männer völlig nackt, wie es die Natur zur wahren Lebenskunst fordert. Kleine schwarzbraune Holzhütten sind die Wohnstätten dieser “neuen Menschen”, wie sie sich nennen. Obst und Brot ist die Nahrung, letzteres wird nach eigener Erfindung des Gründers dieser Kolonie aus grobem Schrot gekocht, nicht gebacken. Für ganz besondere Wünsche kocht die Genossin des Gründers dieser Kolonie auch ein Gemüse, doch ohne Salz und sonstige Zutat, da dies streng verpönt ist, wie überhaupt jedes tierische Produkt ausgeschlossen ist. Sonntage sowie Feiertage gibt es nicht, die Woche hat zehn Tage, was dem kaufmännischen Talent des Leiters alle Ehre macht. – Ein belgischer Exkonsul war einer von den vielen Schwärmern, die, angelockt durch das herrliche Klima und die idealen Schilderungen des Gründers, sich hier anschloß. Seine Sprachgewandtheit machte ihn bald zu einem ausgezeichneten Fremdenführer in dieser Kolonie, und keiner verstand es so gut wie er, Verdammungsreden gegen das Fleisch und Salz zu halten. Ein kurzes Hemd bekleidete ihn, wenn er mit dem Eselwagen zu Markt fuhr. Als er einmal wegen dieser allzu dürftigen Kleidung verhaftet wurde, ließ er sich aus Verzweiflung darüber einen langen Samtschlafrock machen, den er nun in der Außenwelt benutzt. Ein orangefarbenes Seidenband ziert seine Stirn. – Ein selbstgenähter Veritanermantel mit dem Stern als seinem Symbol schmückte den blondhaarigen Freund, der Vermögen, Talente und Kraft dieser neuen Menschheit brachte, bis er endlich einsehen mußte, daß er alles einer fixen Idee, vergeblich geopfert. – Wie in einem Taubenschlag geht es auf dem Monte Verità ein und aus; seltsame Wunderkuren werden da vollbracht ohne alle Kenntnisse; Sonnenschein und nasser Lehm sind Allheilmittel, dazu Aepfel und Nüsse, und wer nun nicht gesund wird, der ist eben noch nicht reif für die “neue Menschheit”! –

Wie überall im Leben, so hat sich auch hier das Lager geteilt: Von den vielen, die gekommen waren, ihr Leben auszuleben nach vorschwebenden Idealen, ließen sich einige auf dem Berg oder im Dorf nieder, kauften für wenig Geld ein Stück Land, oftmals mit einer Almhütte, einer Ruine oder doch mit den Steinen, die von eingestürzten Mauern. Bald war ein Häuschen selbst oder unter Aufgebot weniger Hilfskräfte gebaut, ein Herd aufgestellt, wo er eben Platz hatte. Der Boden wurde urbar gemacht und liefert reichlich die Bedürfnisse eines Haushalts, bei manchen meckert vergnügt eine Ziege und liefert den nicht gar zu strengen Vegetariern die Milch. Andere halten sich auch Hühner, und Katz und Hund leben in treuster Freundschaft miteinander. Oft bringt der Boden eine solche Ueberfülle von Frucht und Gemüse, daß die nachbarlich bekannten Frauen ihre Schätze austauschen der für den Winter konservieren. – Auf ganz unwegsamen Felsen finden wir plötzlich eine andere kleine Siedlung; einsam haust dort ein Junggeselle, Haar und Bart sind lang gewachsen, sein einziges Hemd hängt draußen und wartet, bis der Regen den nötigen Reinigungsprozeß vollzieht. Er selbst führt ein beschauliches Dasein, träumt im Sonnenschein liegend, von einem Zukunftsstaat ohne Arbeit, und wenn er hungrig ist, sucht er Beeren im Wald oder auch einen Genossen auf, der noch Vorräte hat. Ein anderer wohnt in offener Ruine, sein Gewand ist ähnlich dem der römischen Hirten, er sucht alles der Natur zu entnehmen, um sich mit ihr verbunden und eins zu fühlen! So hat er jüngst die getrockneten Blätter aus einem Sumpf gesammelt, um damit die Wände seiner Stube zu tapezieren. – Verschiedene Ehepaare wohnen in oft recht hübsch gebauten Häusern, an Schluchten mitten im Wald oder auf einer scharfen Bergkutte, auch dicht am See; alle ringen nach einem von der Kultur möglichst freien Leben. Viele treiben Politik oder Kunst, aber noch mehr leben im dolce far niente. Auch Geheimwissenschaften sollen einige betreiben nach den Feststellungen der “neuen Menschen”, und die “schwarze Magie” ist kein selten gehörtes Wort. Seifeneinreibungen, von einer Frau erfunden, sollen von allen Krankheiten heilen. – “Welch Schauspiel! Aber ach ein Schauspiel nur!” möchte man mit Goethe ausrufen, wenn man in der Welt des Kampfes, der Not und großen sozialen Arbeit diese kleine Bühne sieht mit Menschen, die alle Versuche machen, sich vom Allgemeinleben loszulösen. Eine Zeitlang halten sie es aus, wenn sie nicht durch die Unterernährung und extreme Lebensweise frühzeitig geistig zusammenbrechen, wie es bei einigen der Fall gewesen ist. Bei manchen bricht doch der alte Lebensmut wieder durch, und wer nicht ganz ein Leben des Heuchlers führt, greift bald zu redlicher Arbeit oder zum Wanderstab, um in jene Welt zurückzukehren, die er erst glaubte fliehen zu müssen.

Das bescheidene Völkchen im Dorf schaut dem Leben dieser Naturmenschen mit Lächeln zu und wundert sich heute nicht mehr über die “Balla-bjutt” (Nacktläufer) und “Vegetariani”; ihnen sind sie wohl harmlose, aber nicht ganz normale Menschen.

Und doch sind manche unter ihnen, die den Mut und die Kraft hatten, noch manchem Irrtum ein solches Leben des Scheins wieder für immer aufzugeben.

Die Woche, 8. Jhrg., 20. Oktober 1906, Nr. 42, S. 1837-1840.