Die von den „Naturmenschen“ gepredigte „Rückkehr zur Natur“ ist auch die Devise einer ganzen Kolonie, die sich seit länger als einem Jahre in den Gipfeln der Voralpen der Südschweiz angesiedelt hat. Gegründet wurde sie von einem Herrn Heinrich Oedenkoven-Hofmann aus Berlin, der sich als „Philosoph und Nationalökonom“ bezeichnet. Vor zehn Jahren erkrankte er schwer und reiste vergebens zu medizinischen Autoritäten in Deutschland, Oesterreich und Italien. Er begann nun sein Leiden selbst zu studieren, sich sowohl mit seinem eigenen Ich, als auch in körperlicher und in seelischer Beziehung intensiv zu beschäftigen und — genas. Während seiner Genesung hatte er aber den Plan gefaßt, einen Platz zu gründen, an dem der Gesunde gesund bleiben, der Schwache stark werden und der Kranke gesunden könne. So entstand die Kolonie auf Monte Verita, aus deren Leben und Treiben uns unsere Bilder Verschiedenes zur Anschauung bringen. Um dorthin zu gelangen, fährt man mit der Eisenbahn bis Locarno am Ufer des Lago Maggiore, dann drei Meilen zu Fuß nach Norden, bis zu dem steilen, fast unzugänglichen Monte Verita.
Eine Amerikanerin, die dieses Weges gezogen ist, schildert ihre Eindrücke wie folgt:
Eine Stunde auf einem schmalen, steilen Wege nach aufwärts, und ich war vor einem Gitter angelangt, dessen Tor in sechs Sprachen die einladende Aufschrift trug: „Niemand hat das Recht, ohne Erlaubnis der Direktion diese Anlagen zu betreten.“ Die Dame ließ sich trotzdem nicht vom Betreten des Parkes abhalten und traf hier zunächst einen einnehmenden jungen Mann, einen Prinzen alt-italienischen Geblütes aus Genua, der ganz unter die „Naturmenschen“ gegangen ist und sich, nur in einem wollenen Hemde mit weiten Pluderhosen, mit nackten Beinen und Sandalen an den Füßen, seines jetzigen Daseins lebhaft zu freuen schien.
„Der junge Prinz — erzählt die Dame weiter — führte mich überall umher und zeigte mir die hübschen, kleinen Holzhäuschen, in denen alle Kolonisten leben. Mit Stolz erzählte er mir, daß jeder von ihnen sein Häuschen in Ordnung halte, reinige, sich neue Möbel macht u. s. w. Uebrigens werde das Haus nur während der bittersten Kälte und bei Unwetter benützt, da man sonst immer im Freien schlafe. Auf meine Frage nach den« Aufenthalt der übrigen Kolonisten teilte mir mnein Führer mit, daß die meisten mit der Zubereitung der Mahlzeiten oder mit dem Baden im Schlamm oder Wasser beschäftigt seien. In diesem Moment trat aus einem der Häuschen, singend und trällernd, ein bildschönes junges Mädchen, das mir als Fräulein Maria vorgestellt wurde. Das Mädchen trug die Haare ganz einfach um den Kopf geschlungen, ein schürzenartig an den Schultern hängedes, lose herabfallendes Kleid, und hatte an den Füßen ebenfalls nur Sandalen. Fräulein Maria führte mich nun Sonnenlicht- und Schlammbädern, zu dem Wasserfal, der eine herrliche, natürliche Douche für die Badenden bildet. Inzwischen war die Stunde vergangen und ich machte nun die Bekanntschaft des Direktors Hofmann. Ein kluges, ein verträumtes Gesicht mit einer hohen Denkerstirne, die Kleidung dieselbe wie die des Prinzen, nur daß er auch Strümpfe trug. Herr Hofmann nahm mich in liebenswürdigster Weise auf, lud mich zu der vollständigen vegetarischen Mahlzeit ein, die aber an Güte und Reichhaltigkeit nichts zu wünschen übrig ließ, und gar [sic!] mir weitere Erläuterungen über die Organisation seiner Anstalt. So erfuhr ich zum Beispiel, daß das einzige Haustier, das auf Monte Verita gehalten werde, ein Maulesel sei, den mann zur Hinaufbevörderung der Einkäufe benütze. Allerdings sind diese Einkäufe nur recht spärlich, da Obst und Gemüse selbst gezogen wird und für die Kleider ein genügender Vorrat an Stoffen in allen Farben aufgestapelt liegt. Abends begab ich mich wieder hinurtter nach Locarno, mit dem Bewußtsein, eine Stätte des Friedens verlassen, um mich wieder in ein Meer voll Unrast und Unfrieden zu stürzen.“
Illustrierte Kronen-Zeitung, 6. Jahrg., 11. September 1905, Nr. 2046, S. 11-13. Online