— m. Aus Locarno wird uns geschrieben: In Locarno und Umgebung halten sich seit einiger Zeit zahlreiche Herren und Damen auf, welche durch ihr etwas sonderliches Auftreten bei der Bevölkerung ziemliches Aufsehen erregen. Es ind dies sog. Vegetarianer, die sich lediglich mit (meist ungekochten) Früchten und Gemüsen, wie Rüben und dergleichen, ernähren, keine Kopf- und keine Fußbedeckung oder bloß Sandalen, sowie keine Ueberzieher tragen, möge es Regen oder schön Wetter machen, und bisweilen auf der nackten Erde übernachten. Man begegnet Gruppen solcher Leute in den vielen Straßen und Spaziergängen von Gordola hinab bis nach Ascona und Brissago, und man fragt sich vielfach, ob es ihnen mit dieser Lebensart wirklich Ernst sei oder Spaß. Sonst hat die Bevölkerung gegen die Leute durchaus nichts einzuwenden, oenn sie benehmen sich gegenüber Bürgern und Bauern sehr höflich, bezahlen das bescheidene Mahl, das sie genießen, mit barem und oft reichlichem Gelde, und ebenfalls mit barem und üppigem Gelde kaufen sie schön gelegene Wohnungen und Gärten und nirgends stellen sie übermäßige Anforderungen für sich selbst. Diese Gäste kommen uns fast durchwegs aus Deutschland, zum kleinen Teil aus der Ostschweiz und sind samthaft mit Legitimationspapieren und regelrechten Leumundszeugnissen versehen; sie gehören fast alle angesehenen Familien an und besitzen ebenfalls fast alle akademische Titel, die sie entweder auf deutschen oder auf schweizerischen Hoch- und technischen Schulen erworben haben; sie fühlen aber alle das Bedürfnis nach einer wesentlichen Besserung und Kräftigung ihres körperlichen Zustandes (wahrscheinlich infolge von Ueberanstrengung), und daher erklärt sich ihr dauernder Aufenthalt in dieser sonnigen Gegend und ihre besondere Lebensweise.
Der Bund (Bern), 51. Jahrg., 7. Dezember 1900, Nr. 339, S 2-3. Online