Ein Mitarbeiter der “M. N. N.” erzählt

Ein Mitarbeiter der “M. N. N.” erzählt: Auf der Landstraße Locarno-Ascona, rechts beim Kirchhof abbiegend, gelangte ich zu einem mit hohem Bretterverschlag eingezäunten, vier Hektar umfassenden Hügel. Ein Belgier, der mit seiner Familie und einigen wenigen Getreuen bereits längere Zeit dort hauft, steht jetzt im Begriff, auch dem größeren reisenden Publicum gegen entsprechende Pension, diesen seinen Curort und Zukunftsstaat zugänglich zu machen. Der Besitzer und Director dieses Zukunftsstaates, der jedenfalls der sogenannten guten Gesellschaft [a]ngehört, macht, abgesehen von seiner Kleidung und Aeußerem, zunächst einen normalen Eindruck. Seine Kleidung besteht aus Kniehose und Blouse von braunem Sammt, die Füße stecken in Sandalen und das wallende Haupthaar und Bart erinnern an uns bekannte Figuren aus den Oberammergauer Festspielen. In liebenswürdiger Zuvorkommnenheit zeigte er mir die noch sehr unfertigen Anlagen, die Anfang Mai dem Betrieb übergeben werden sollen, und entwarf mir das Bild, wie er sich das Zurückkehren der Menschen zur Natur vorstellt. – “So lange es kalt ist, bekleidet “Er” (der Zukunftsmensch) seinen Körper, hernach geht er nackt einher – das Hemd ist uumoralisch! Er lebt in selbstgezimmerten Bretterhäusern, bei warmem Wetter in Lufthäusern, ohne Thüren und Fenster. Er bedient sich selber, nur schwer Kranken wird geholfen. Er webt und fabricirt alles zum Leben Nöthige persönlich, und zwar mittels elektrischer Kraft, wo selbige nur irgend verwendet werden kann. Er bestellt das Obst, den Garten. Er kocht die für den Winter nöthigen Obstconserven – notabene seine einzige Kocherei, denn er lebt vegetabilisch, nicht vegetarisch, das ist ein überwundener Standpunkt. Er ißt Nüsse, Obst, Flocken! – Milch, Eier, selbst Brot sind verpönt. Die Essenszeit ist gleichgiltig. Dem Säugling wird nur Muttermilch gereicht – hernach bekommt derselbe sofort Obst, Rohkost. Er wird seine eigenen Zeitungen drucken, seine eigenen Schauspiele und Bücher schreiben, und zwar alle Worte gleich, ohne große Anfangsbuchstaben, denn das ist Zeitvergeudung und strengt das Gehirn des Kindes unnütz an. Es wird keinen bestimmten Beruf geben; keine Juristen, keine Tischler, keine Aerzte, keine Musiker oder Schuster. Jeder Einzelne wird Alles in sich verkörpern. Bis es dahin kommt, hat er natürlich die Außenwelt noch nöthig, das wird aber später fortfallen. Die Außenwelt wird dann ihn nöthig haben, denn zum Beispiel wird sie von ihm die Obstconserven beziehen.” Als ich mich interessirt erkundigte, wie lange er bereits dies Leben bei der Kost führe und wie er sich körperlich dabei befinde, erwiderte er: Seit vielen Jahren, und er fühle sich sehr wohl. Früher sei er krank gewesen, jetzt immer gesund, und hoffe an 120 bis 130 Jahre alt zu werden. – Viel Glück!

Neues Wiener Journal, 11. Jahrg. 25. April 1903, Nr. 3410, S. 7. Online.

Bei gusto-graeser.info: Henri Oedenkovens Zukunftsstaat.