Die Vegetarier-Ansiedelung in Ascona (1. Fortsetzung)

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Ein der ganzen Ansiedlung und neuerdings dem Sanatorium besonders nützliches Glied ist der Robert — im Dorf Signor Roberto genannt —, ein junger Deutscher, früher Feldmesser. Ich sah ihn vor mehreren Jahren bald nach seinem Eintritt ins Sanatorium in recht schlechter körperlicher Gesundheit und psychisch unwohl und unzufrieden, ein Jahr später in beiden Beziehungen völlig geändert, heiter und beweglich, zufrieden und zuversichtlich. Er ist nun zum begeisterten Verehrer des Vegetarismus und

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eines einfachen Lebens in freier Luft geworden, hat Land gekauft und eine alte Ruine ausgebaut mit Balken und Brettern, die er den Berg hinaufschleppte, und Gusti hat ihm einen riesigen Apfel und zwei dito Kirschen auf die Hausfront malen müssen. Er ist sein eigener Maurer, Zimmermann, Koch, Schneider und Gärtner geworden. Verglichen mit den Andern ist er der Juste-Milieu-Mann der Ansiedlung (sogar in der Orthographie) und er stellt so und durch sein äusserst liebenswürdiges Benehmen und Gefälligkeit einen glücklichen Vermittler zwischen den extremeren Ansiedlern und der Aussenwelt vor. Mit ihm stehen sich alle gut. Er ist der Ansicht, dass Geld ein nothwendiges Mittel des Verkehrs sei und er hat hierüber viel mit dem Gusti gesprochen, der das nicht glauben will. Aber auch er zieht vor, möglichst wenig mit Geld zu verkehren. Wie er das durchzuführen gedenkt, zeigt z. B. Folgendes. Er hatte vor, zur Erweiterung seiner Lebenserfahrungen eine Fussreise bis nach Wien zu machen, ohne dabei Geld anders als etwa in Nöthfällen zu verwenden: Während des Sommers würden die Bauern froh sein, seine Arbeit gegen Kost und Nachtlager zu bekommen und so käme er in kurzen Tagesetappen bald bis ans Ziel, Vormittags wandernd, Nachmittags arbeitend.

Sein Mantel trägt das von ihm bevorzugte Symbol: den Stern.

Obwohl er seine Person möglichst wenig hervordrängt, hat er sich doch muthig hervorgethan, als es

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der Sache galt, der er nun dient. Er war mit bei einer Tour des Henri und der Ida über verschiedene vegetarische Anstalten in der nördlichen Schweiz.
Sie besuchten auch eine grosse Naturheilanstalt, die sich schon etwas mehr der „Staatsmedicin“ nähert als Ascona. (Henri mündlich: Eine recht gut geleitete Uebergangsanstalt zu der unsrigen.) Der V orstand — er versteht sich auf wortgewandte Debatten —

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lud den Henri nach dem Abendessen höflich ein, seinen Standpunkt der anwesenden zahlreichen Gesellschaft — ca. 60 Personen — auseinanderzusetzen. Dieser lehnt ab,als nicht genügend gewandt, längere Reden in deutscher Sprache zu halten. Der Freund mit dem Stern auf der Brust tritt in die Bresche und hält aus dem Stegreif eine feurige Rede, die ihm ein kräftiges Zuhauen von Seiten des Anstaltsvorstandes einbringt. Andere helfen mit, aber der Asconese bleibt fest und weiss zu pariren. An diesem Abend hat er seinen Beitrag geliefert zur Prägung der Marke Ascona. Drei Wochen später besucht mich ein Mann aus einer Kaltwasserheilanstalt in Sachsen,der durch den Brief von einem Freund und Vegetarier in Mühlhausen von jener Rede gehört hatte. Vom Vegetarismus mit mir sprechend, sagt er: In Sachen der Bewegung Ascona seier schon genau informirt.

Ueber einige Aenderungen, die sich seit meinem letzten Besuche in Ascona zugetragen haben, lasse ich ihn selbst berichten: Wi Ihne nwohl bereits bekannt ist, habe ich im September mit meinem einsidlerleben abgeschlossen und bin auf den Monte Verità gezogen. 2 jahre hatte ich fergeblich auf meine zweite hälfte gewartet — noch länger hause so, wer kann; ich hatte genug. Es ist wirklich nicht gut, dass der mensch allein sei, er rostet ein. Bei greisen mag das nicht schlimm sein, aber jugend soll leben und schaffen, soll sich auch reiben. Jetzt bin ich also wider unter menschen. Mein gesamtes

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besitztum habe ich mit dem Oedenkoven-Hofmannschen fereniigt, wir gründen die „Cooperativa Monte Verità“. Di notarielle festlegung unserer fundamente soll in nächster zeit erfolgen (ausschluss der erbrechte fon ferwandten, stimmeneinheit der leitenden mitarbeiter bei allen beschlüssen, kapitalsamortisazion etc.). Wir wollen Ihnen gern den Wortlaut der urkunde zur ferfügung stellen, sobald er feststeht, ebenso die neuen bedingungen für die aufnahme fon mitarbeitern, ihre rechte und pflichten etc.

Mit Ihrer broschüre kommen Si der unsrigen zufor, die im winter bestimmt entstehen sollte. Da wir jedoch noch andere arbeiten in fülle haben ist uns ihr forhaben sehr willkommen, wir werdens unterstützen und fördern, so gut wir können. Wir befassen uns u. a. mit dem plane der gründung eines kindererziehungsheims, etwa ims inne Rousseaus, und einer lehranstalt für gartenbau. — — —

Si haben auch für unsere rechtschreibung interesse. Wi Si sehen, weicht meine fon der Henris u. Idas ab. Ihr Schreibgrundsatz ist: Äusserste einfachheit, der meinige: möglichst follkommene widergabe des g e s p r o c h e n e n (das geschribene wort soll nicht deutlicher fassbar sein als das gesprochene) bei einfachen ausnamslosen regeln. Ich wende h als dehnungszeichenan, konsonantenferdoppelung als Kürzezeichen. Das dehnungs-e ersetze ich forläufig durch den längestrich, um dem leser nicht gleich ein zu fremdartiges wortbild zu biten.1 Aus dem-

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selben grunde verzichte ich forläufig auch auf manche andern fereinfachungen. Di majuskeln sollen hauptsächlich di Satzzeichen bei der widergabe der tonfärbungen in der sprache unterstützen, ferner zur herforhebung bedeutungsfoller wörter dinen, etc. etc.

Es liegt mir fern, zu behaupten, dass meine rechtschreibung, oder richtiger „Schreibung“ auch für alle andern, gut sei. So gut wie jeder einigermassen gebildete seinen eigenen Stil hat, sollte auch di Schreibung eines jeden eigenartig fon ihm selbst aus den grundelementen entwickelt sein. Fort mit dem gleichformwesen, das zum unwürdigen herdenmensehentum führt! Scharf ausgeprägt i n j e d e r H i n s i c h t soll di persönlichkeit sein, all sein tun kennzeichnend für den menschen.

Hier schliesse ich in der Hauptsache mit meinen Mittheilungen über das Sanatorium Monte Verità und gehe zur Vorführung der übrigen Ansiedler über. Von ihnen schreibt mir Ida: manche von inen haben utopistische Gelüste und fantasien. Und Henri (mündlich): Ich würde gerne sehen, wenn Sie in ihrer Broschüre keine Verwechslung von uns (vom Sanatorium Monte Verità) mit den Naturmenschen machen. Das Verhältniss ist so: In der Mitte ist die grosse Menge der Mittelmenschen. Am einen Ende sind die Naturmenschen, am andern wir. Auf meine Frage, wie er den Naturmenschen X. so lange als Cassirer halten konnte, sagter: Unsere Sache zieht leider viele dieser Naturmenschen an; — sie alle

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kommen nach Ascona — und so haben wir manchen genommen. Aber ich werde mir jetzt ein grosses Sieb zulegen, und kein Unpassender soll mir jetzt mehr in meine Sache hineinkommen.

(Nachschrift). Bevor ich zu den Externen übergehe, habe ich noch eine Reihe von Mittheilungen von der Ida zu bringen: die menschen wie nagel, jenasch u.s.w., welche dem angeblichen oder wirklichen „zurück“ zur natur huldigen, haben keine beziehungen zum „monte verità“, henri kan inen darüber des näern berichten. bite nochmals uns nicht als „naturmensehen“ zu bezeichnen, indem wir dise bezeichnung fast gleichbedeutend mit „Urmenschen“ betrachten, eine bezeichnung, welche wol nur auf jene zeit bezug haben kan, da die ersten menschen di nakte, d. h. di noch unkultivirte natur u. erde befölkerten.

henry ist 28 jare alt, ich 39. ich bemerke noch, dass ich absichtlic hmeinen namen fol u. for demjenigen meines manes anbringe, da ich der ansicht bin, dass eine freie, ideale, ferbindung die fraun icht zum besiz des manes stempelt u. si folglich auch nicht des namens ferlustig werden lässt. diesen standpunkt wil ich ganz ofen u. der warheit entsprechend vertreten.

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Der Senior der Gruppe der Externen ist Herr X., 50 Jahre alt, Holländer. Er war früher der Cassirer

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des Sanatoriums, hatte dessen deutsche, holländische und englische Correspondenz und die Buchhaltung zu führen, er besorgte die Post, führte die Fremden im Anstaltsgebiet umher, fuhr mit dem Eselkarren des Sanatoriums nach Locarno, umd ieE inkäufe zu besorgen und er war der Mann für Alles und Jedes für die Anstalt. Aber das sind jetzt tempi passati.

Er hat Ansichtspostkarten herausgegeben. Drei davon liegen vor mir: 1. Bild: er im Leinwandkittel und Stirnband. Neben ihm der Esel mit dem Karren. Hintergrund: der Marktplatz von Locarno. — 2.Bild: Er, nackt (die Stellung in keiner Weise indecent und das Ganze nicht übel), mit Stirnband und Holzschuhen, im Garten des Sanatoriums mit dem Spaten arbeitend. Aufschriften: An der Arbeit. Jesaia 65, 17; Petrus 3, 13; Sanatorium Monte Verità Ascona. Die Schande hat uns gekleidet. Die Ehre wird uns wieder nackt machen. — 3.Bild: Aufschrift: Monte Verità, Ascona, Lago Maggiore. Dann kommt das Bild desX. im Sammtkostum Unterschrift: (der Name), f. z. n. Naturmens geb. Amsterdam, 13.Januar 1853.ex Consul von Belgien, ex Mitglied der Firma’s (Name) in (Name) und (Name) auf Java und ex Director von Cultur- und Handelsunternehmungen. Dann: Früher war ich K n e c ht meiner Begierden. Jetzt bin ich H e r r über Alles. Pour sauver le monde, il faut combattre le sel et le bonheur jaillira. Die Schande etc. (wie oben). Wenn wir unsere Kinder mit Rohkost grossziehen, wird allmählich ein Geschlecht von Riesen ent-

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stehen. Alle Lebenskraft wird durch Feuer getödtet. Lebensprotoplasma kann nur durch Lebensprotoplasma gebildet werden. Es ist verkehrt, die Zelle vor dem Gebrauch zu tödten. Der Mensch ist kein Pflanzenesser, kein Raubthier.

Nachdem ihm die Polizei das Betreten der Strassen im Kittel verboten hatte, versuchte er es mit verschiedenen neuen Trachten. Eine in der er besonders oft gesehen wurde, bestand in einem schlafrockähnlichen Gewande aus braunem Manchestersammt, zugeknöpft vom Halse bis zum Gürtel. Leibwäsche vermeidet er, wenn er diesen Rock trägt. Die Fussbekleidung waren Gummigaloschen oder Sandalen. Statt eines Hutes trug er ein breites orangerotes Atlasband um die Stirne mit einer Masche hinten zum Zusammenhalten seines langen, dichten Haares.

Besuchern erzählte er in etwas mürrischem Tone, wie seine Verhältnisse als Geschäftsmann in Ostindien ganz anderer Art gewesen seien (grosses Haus, 14 Dienstboten etc.), als hier, wo er Naturmensch sei. Auch gab er unaufgefordert Auskunft über sein Geschäft mit Ansichtskarten und seinen Beziehungen zum Hersteller derselben, dem er Procente geben müsse. Auch erging er sich in Schilderungen seiner Vorführung vor den Polizeigewaltigen von Locarno: Bekleidungsangelegenheiten. Dem habe er gewaltig die Meinung gesagt. Ich hatte (aus züricher Quelle) gehört, er habe die Absicht, wieder nach Ostindien zurückzukehren und dort auf einem hohen Berge einen Tempel zu errichten. Auf meine Anfrage

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schreibt die Ida: dass X. 1 Tempel bauen wil, dafon weiss ich nichts — er hätte wol lust wider nach java zu gehen — den text seiner ansichtskarten weiss nicht genau — bite jedoch disen nicht in dem sine zu zitiren als ob er unsere ansichten ferträte. X. ist fanatiker für eine gute ide und für manche weniger gute — sein gutes streben liss in ferkenen, dass sein handeln nicht im einklange mit seinem wolen u. forgeben. er ist ganz reklame, Propaganda , ob mer für sich als für di sache?!! auch stiss er di geselschaft di gewonen u. nicht brusquirt werden wil durch sein unfermiteltes auftreten bewisener masen ab — als wir dis und den schaden den er uns brachte, bemerkten , trenten wir uns fon im mit dem bedeuten den „monte verita“ aus seiner ansichtskarte zu streichen.

Mein Manuscript hat stürmische Veränderungen erlebt. Da befand sich noch vor 10 Tagen der Robert ausserhalb des Sanatoriums, bei den Externen oder Utopisten oder Naturmenschen , wie wir sie immer nennen wollen, X. aber in der schon so lange eingenommenen Stellung als Cassirer im Sanatorium. Nach dem Eintreffen der Nachrichten, aus Ascona mussten die Beiden ihre Plätze im Manuscript wechseln und dann kamen neuerdings Briefe, die mein Manuscript beschlagen. Die Ida schreibt: ja , wer di bezeiehnung „naturmenschen“ aufgebracht? möchten wir auch wissen, den wir sträuben uns gewaltig dagegen, mit d e m identifizirt zu werden, was man darunter ferstet. „kultur“-menschen im besten sine des

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wortes wolen wir sein, dazu bedurfte es eben einiger reformen — dise füren wir ein u. durch. di bezeichnung „naturmensch“ ist wol seit nagel’s erscheinen gang u. gäbe. — Von den Zeitungsberichten über die Ansiedler schreibt sie: ales, was geschrieben wurde, war mer oder weniger das ergebniss eines flüchtigen besuches — oder trivialen gedankenganges, der, beinflusst fon den filfach unsitlichen forkomnissen in der geselschaft, auch hinter unsererer freieren lebensweise nur unsittliches witerte. X. ist seit Oktober nicht mer bei uns. es fiel im schwer u. er wusste gewissermassen nicht, wi seine lebensweise nun fortsezen, aber wir saen ein, dass er, troz so mancher guten seite, unserm unternemen mer schadete als nüzte. auch erteilte er den betrefenden berichterstatern meist informazionen, welche nicht mit unsern ansichten harmonirten. daher lösten wir das ferhältniss — er reiste nach london u. seither wissen wir nichts fon im. henri der beabsichtigt si zu besuchen,kann inen näere details geben.

Gespräch mi tHenri: Was wird X. in London thun? Henri: Er will dort auf der Strasse vor dem feinsten Restaurant mit dem Reformkocher eine Mahlzeit herstellen. Ich: In welchem Kostüm ist er verreist. Henri: Im braunen Sammtrock. Ich: Und was ist Ihr Urtheil über den Mann? Henri: Reine Reklame, „sandwichman“.

X. war nur wenige Tage Externer und es war also voreilig von mir, ihn in die Gruppe der Externen zugeben.Der Mann kommt mir aber nicht

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wieder in die vordere Abtheilung, und übrigens kenne ich die Externen als tolerant.

(Nachschrift). Soeben erhalte ich von X. Antwort aus London auf ein Schreiben von mir, das ihm von Ascona nachgesandt worden ist. Er berichtet u. a .: Ich ging hier anfänglich wie in Ascona und alle Blätter schrieben über mich. „The schirtless man“ , [„]The 20 Century Christ“, „The Regenerator“. Alles Namen, die man hier fabrizirte. Das Pöbel jedoch ist hier sehr hinderlich und deshalb war ich gezwungen doch wieder ein Hut und Hose zu kaufen um gehen zu können.

Fortsetzung

  1. Im Druck wäre dazu eine neue Type nöthig. A. G. []