Die Vegetarier-Ansiedelung in Ascona

[3]

Dass man vegetarisch verheirathet sein kann, werden Sie vielleicht nicht wissen. Ich sollte Sie da eigentlich nach Ascona am Lago Maggiore schicken, um Sie zu überzeugen. Dort lebt eine Anzahl Menschen mit ihren Frauen in einer Verbindung, die von den meisten Staaten wohl nicht anerkannt wird: in der sog. Gewissensehe. Die um liegende Bevölkerung hat sich nach einem jahrelangen Verkehr mit ihnen davon überzeugt, dass diese Verbindungen durchaus ernst gemeint sind und dass nichts Frivoles und Unsittliches damit einherläuft. In der Verlegenheit, wie diese Ehen zu bezeichnen, für die ihr in ganz richtigem Gefühl das Wort Konkubinat oder wilde Ehe unpassend erscheint, bedient sich die dortige Bevölkerung des Ausdruckes “vegetarische Ehe” wegen des Umstandes, dass die L eute dort allgem ein nur als die “Vegetariani” bezeichnet werden. Als solche sind sie der tessinischen Landbevölkerung viel fremdartiger als etwa den deutschen Grossstädtern, denen Vegetarier schon seit Decenien bekannt sind.

Ihre Wohnsitze sind auf einem felsigen Rebhügel am Rande der Ortschaft Ascona, am Seeufer, 3/4

[4]

Stunden südwestlich von Locarno. Dem Hügel haben die neuen Bewohner — sie leben dort erst seit 3 Jahren — den Namen Monte Verità oder Wahrheitsberg gegeben, der von der Bevölkerung, der Post und den Behörden angenommen worden ist. Diese Vegetarier werden von den Zeitungen die Naturmenschen vom Tessin genannt. Die angloam erikanische Fremdenwelt von Locarno hat sich das W rt the naturals zurecht gelegt, — auf Deutsch etwa Natürlinge. Durchschnittlich zählt die Ansiedlung — bei lebhaftem Ab- und Zugange — etwa 30 bis 40 Köpfe.

[5]

Ungefähr die Hälfte ist ständig niedergelassen, die andern sind entweder “Mitarbeiter” auf kurze oder längere Zeit oder besuchende Vegetarier aus allen Theilen Europas oder Kurgäste , die sich zur naturärztlichen Behandlung in das d ort errichtete Sanatorium Monte Verità begeben. Sein Gründer ist ein Belgier, der jetzt wohl schon 150000 Franken ausgegeben haben mag für Landankäufe und für allerlei neuartige Bauten und Einrichtungen. Die Besitzer und Leiter sind: Henri (dort werden nur die Taufnamen genannt), seine Frau. Ida, eine Deutsche, früher Musiklehrerin in Montenegro, und neuerdings auch ein gewisser Robert. Als Beitrag zum vorliegenden Aufsatz schreibt mir Ida (eigentlich ida hofman-oedenkoven): in henri’s kopf entsprang als resultat erfarungreicher leidensjare der krankheit u. moralischer unbefridigtheit im kreise seiner umgebung, dann als resultat imer steigender gesundheit u. lebensfreude, der wunsch, ein unternemen in’s leben zu rufen , das unter den besteenden erwerbsgatungen eine der rechtlichsten, idealsten darstele u. zugleich mer gesundheit, schafensfreudeu. m er libe unter di menschen brächte. seine filfachen erfarungen in den naturheilanstalten kuhne, just, rikli, etc. liferten di sichere grundlage zu einer, auf regenerazion in körperlicher u. sitlicher hinsicht zilenden einrichtung. wo das eine gesundet, muss das andere gesunden — körper u. geist sind eins.

Es liegt mir ein umfangreicher Prospect des Sanatoriums vor. Handschriftliche Aenderungen deuten

[6]

an , dass der Prospect in nächster Zeit von Grund auf neu ausgearbeitet werd en soll. Zweck der anstalt: Heilung aller krankheiten durch einfache natürliche mittel — den geheilten eine gesundheitslehre beizubringen — Ansidlung fon Vegetabiliern zu unterstützen. Kurmittel der heilanstalt: vegetabilische oder reine fruchtnahrung, luft- u. sonnenbäder (im winter in grossen glashallen), wohnen in lufthütten, lehmumschläge (gegen blutwalungen, entzündungen, brand- u. schnitwunden etc.), körperliche tätigkeit, kurkleider. Alles für die Gesundheit Wichtige wird hier besprochen, auch weniger belangreiche Dinge, z. B. die Fürsorge um die Automobile der Kurgäste und die photographische Dunkelkammer. (DerAufenthalt in ihr bleibt trotz sorgfältiger Lüftung des Raumes ein ungesunder, was handschriftlich in gesundheitsschädlich abgeändert ist, — man sieht das sorgfältige

[7]

Feilen.) Aus dem Ganzen leuchtet das Streben nach Ausreifung, und die Sache ist schon wesentlich reicher ausgerüstet als vor zwei Jahren, da ich sie zuerst sah.

Die Kleidung der Männer besteht meist in Kniehosen, Hemd und Ueberwurf oder Bluse, Sandalen, und statt einem Hute einem Stirnband zum Zusammenhalten des langen Haares. Diese Kleidung war es, was zuerst das allgemeine Erstaunen erregte, und noch heute bekreuzen sich mit einem Maria Santissima gelegentlich ältere Bauernweiber aus den umliegenden Gebirgsdörfern, wenn ihnen die Vegetarier auf der Landstrasse zum ersten Mal begegnen. Sie halten die Erscheinung für eine unchristliche. Aber auch andere vereinfachte Kleiderformen kommen vor, und Einige bringen Zusätze an ihren Kleidern an, die gleichzeitig aesthetisch wirken und dabei eine symbolische Bedeutung haben sollen. Es ist vorgekommen, dass einige der Extremeren im blossen Leinenkittel ins Dorf oder in die Stadt Locarno gingen. Die Polizei hat ihnen das verboten, mit ihnen über den Begriff Decenz debattirt und bei verschiedenen Gelegenheiten angedeutet, was sie als zulässiges Minimum an Bekleidung ansieht. Von den Hosen hiess es: je länger je lieber. Bald jedoch verständigten sich die beiden Theile und sie stehen heute auf gutem Fusse mit einander. Andere Einschränkungen haben ihnen die toleranten tessinischen Behörden nicht auferlegt und sie dulden auch die ungerne gesehenen Ehen der Ansiedler, vermuthlich wegen ihrer Eigenschaft als Vegetarier.

[8]

Die Behörden hatten einmal in aller Höflichkeit einen Fühler ausgestreckt: man bäte um Nachweis ihrer Trauungen, die aus den Ausweispapieren nicht hervorgängen. Aber die Antwort der Ansiedler und ihre Erklärung über ihre Auffassung von der Ehe war eine sehr energische und selbstbewusste: Nicht eure, sondern unsere Ehe halten wir für die richtige. Ich kann über diesen Punkt nicht mit Bestimmtheit referiren, aber ich habe den Eindruck bekommen, als ob jeder Theil auf dem bestanden, worauf er am meisten Gewicht legte, und dass so ein stillschweigender Komprom iss zu Stande gekommen sei: Dort der Lehrsatz von der Decenz mindestens auf der Strasse — auf Seiten der Polizei, hier die Aufrechterhaltung einer heiligen Ueberzeugung in Ehesachen — auf Seiten der Ansiedler. Ich habe wenigstens aus den ungleich lautenden Berichten durchaus nicht den Eindruck bekommen, als ob die Behörden eine sich mit ihrem Gewissen nicht zu vereinigende Concession gemacht hätten, etwa um die Ansiedler nicht ausweisen zu müssen und so der Bevölkerung die Landverkäufe und sonstigen Erwerbsquellen durch die Ansiedler zu erhalten. Auch ist man ihnen dort zu gut gesinnt. Um das Alles richtig abschätzen zu können, gehört freilich, dass man die für Deutsche und Nordschweizer fremdartigen Verhältnisse im Canton Tessin in Rechnung zu ziehen wisse.

Die Kleidung der Frauen und Mädchen ist unter sich verschieden, aber durchgehends sehr einfach. Einige kleiden sich nur wenig verschieden von der

[9]

Aussenwelt, besonders wenn sie noch Kleider aus der Zeit vor ihrem Eintritt aufzutragen wünschen, andere erfinden und tragen primitive Gewänder nach eigenem Geschmacke. Eine sehr Jugendliche, die Frieda, die Frau des Sanatorium-Ingenieurs, sah ich einst ein Volksfest in Locarno besuchen in Pumphosen, in denen sie allerliebst und durchaus decent aussah.

Die Ida erfindet gelegentlich farbenreiche Zusätze und Verzierungen zu ihren Kleidern, die an Einfachheit des Schnittes schon das Möglichste erreichen. Sie steht als Schriftstellerin im Verkehr mit der gebildeten Aussenwelt, die sie durch Abstinenzschriften und Anderes zu ihren Ansichten und zu ihrer Lebensweise anregen möchte: der modernen Frauenbewegung würde ein kleiner Ruck in ihr Lager hinein gutthun. Vgl. ihre Brochüre “Wie gelangen wir Frauen zu harmonischen und gesunden Daseinsbedingungen?” Reformverlag C. v. Schmitz, Haimhausen.

Salz wird wohl von den externen vegetarischen Ansiedlern, nicht aber von denen im Sanatorium verwendet. Hierüber schreibt Ida: befor si ire behauptung, dass unsere salzlose narung ungesund sei, in di öfentlichkeit bringen, möchte ich si auf einen irtum aufmerksam machen, indem si meinen, wir genössen k e i n salz in unsern speisen, si fergessen, dass wir das reinste aler salze, das organische salz unserm körper zufüren, nur das giftige, anorganische salz meiden wir — si haben recht, wen si di salzlose

[10]

narung des fleisch- oder gemischtessers für ungesund halten, den dise brauchen es, zur anregung der ferdauung irer an eiweiss u. fet überreichen narung, abgeseen dafon dass ja di meisten irer speisen erst durch zusaz von salz u. gewürzen genissbar werden. nicht aber bei natürlichen pflanzenprodukten, di nicht nur im natürlichen zustand schon, tadellos schmecken, sondern auch wen si auf eine weise (im reform kocher) gekocht, bei der kein wasser zugesetzt, und darum nichts fon den närwerten bei der zubereitung ferloren get. dass salz bei diser zubereitungsweise (für vegetabilier wolgemerkt) gift sein muss, beweist wol das peinigende, zerende durstgefül nach genuss gesalzener speisen, u. dass unsere kochsalzfreie narung nicht ungesund sein kan, beweist wol unser gesundheitszustand, der, mit ausname fileicht kirur-

[11]

gischer eingrife bei bein- oder armbrüchen, ni eines arztes bedarf und uns, sobald di zeit natürlicher ausscheidung der früher angesamelten krankheitsstofe forüber ist, k rperlich u. geistig gleich leistungsfähig erhält.

Die Beschäftigung der Ansiedler besteht neben dem Obstbau, der für sie natürlich besonders wichtig ist, im Bauen von Hütten und Gemeinschaftsräumen für die Aufnahme der Vielen, auf deren Kommen sie rechnen. Dienstboten werden dort nicht gehalten, — und Robert (nach dem er vom grössten Theil meines Manuscriptes Einsicht genommen) setzt hier fort: filmehr wird das sanatorium fon seinen gründern mit hilfe freier mitarbeiter betriben. Als mitarbeiter werden nur solche für die dauer behalten,

[12]

di sich nach einer probezeit als reif für unser leben erwisen haben. File waren berufen, aber ach! wi wenige auserwählt! Gar mancher, der mit grosser
begeisterung herkam und glaubte, den geist unserer sache erfasst zu haben, zeigte früher oder später, wi sehr er noch fon dem durch die heutige gesellschaft ihm anerzogenen knechtesin befangen war; und andere wider konnten es nicht fassen, dass der einzelne gerade dadurch di reife für die freiheit in seinem schaffen zeigt, dass er sich in di ordnung des ganzen zu finden fersteht und nicht ferlangt, zu jeder zeit willkürlich handeln zu können. Unsere mitarbeiter

[13]

erhalten keine bezahlung ihrer arbeit, denn di arbeit eines menschen, der sich in idealem streben einer edlen sache widmet, ist unbezahlbar. Sie finden hir di befridigung ihrer nötigen lebensbedürfnisse: nahrung, kleidung, wohnung, unterhaltungs- u. bildungsmittel und zur bezahlung dessen, was ihnen hir nicht geboten werden kann, einen geldbetrag, der jetzt, so lange das unternehmen keinen wesentlichen gewinn abwirft, auf eine bestimmte summe bemessen ist. Später wird fon dem reingewinn di hälfte ferteilt, während die andere hälfte zur amortisirung des grundkapitals dint, das nicht ferzinst wird. Übersteigt der gewinn eine bestimmte höhe, so wird der Überschuss zur Schaffung fon freistellen für unbemittelte kranke und unterstützung vegetabilischer ansidler ferwendet.

Ich freue mich obiger Nachricht und benutze diese Gelegenheit, um zu zeigen, wie leicht es zu einer unrichtigen Schilderung dieses Sanatoriums durch Berichterstatter kommen kann. Henry und Ida waren bei meinem Besuche abwesend, ich glaube in Paris, und da wandte ich mich an ihren Stellvertreter, den Cassirer Herrn X. Der erzählte mir von einer 10tägigen Woche und gab mir über das Abrechnungsverhältniss der Mitarbeiter einen ganz anders lautenden Bericht, der in der ersten Fassung meines Manuscripts vorkommt. Hierüber schreibt Robert nach dem Lesen meines Manuscripts: Der kassirer X. hat ihnen über das erstrebte magerwerden einen seiner schlechten witze angebunden; fon einer “belohnung” des wenigessens ist ernstlich nie di rede gewesen.

[14]

(Ich gratulire dem Sanatorium zum Austausch der zwei Auskunftertheiler.)

Ferner schreibt er: Wir binden uns mit unsern ruhetagen nicht an di im kalender forgeschribenen sonn- u. fest tage,sondern wählen si nach unserm bedürfnis. Wir wollten keine 10tägige woche einführen. Jeder mitarbeiter hat jetzt im jahre 50 freie tage, di er sich nach eigenem ermessen wählen kann, wobei er durch seine wahl gelegenheit hat zu zeigen, ob ihm mehr an der förderung der gemeinsamen sache oder seinen persönlichen interessen liegt. Zeigt sich das letztere, so wird er über kurz oder lang das Schicksal der spreu erfahren.

Ich erkundigte mich auch über Verhältnisse, die auf den Bildungsstand der Anstaltsbewohner schliessen lassen. Ida schreibt: wir halten hir di Zeitschriften: “vegetarische warte”, “reforme alimentaire”,”reformblatt” (warnsdorfer), “gesundheit” (bern), “gesundheit” (wien), “das freie wort”, “l’erèn ouvelle”, auch “l’humanité nouvelle”, als tagesblätter: “deutsche warte”, “étoile belge”, “il dovere”, “lago maggiore”.

Viele andere Mittheilungen, die ich ihr verdanke, z. B. über Rindviehzucht, über Humboldt’s Ansichten über den Nährwerth der Pflanzen etc. etc. kann ich des Umfangs wegen hier nicht bringen. Im Uebrigen legt sie Gewicht darauf, dass ich hier erkläre, dass sie nicht in Communismus leben. Auf meine Frage, ob ihnen der Besuch der vielen Neugierigen lästig sei und ob ich in meinem Aufsatz eine Bemerkung hierüber fallen lassen solle, schreibt Ida: bezüglich

[15]

des besuches fon neugirigen, zien wir for den erwänten passus nicht zu bringen, den wir möchten besucher n i c h t abhalten zu komen — gar manche neugirige sind mit gewecktem Interesse fon uns gegangen, u. groben, manchmal unflätigen naturen, merkt man bald an, dass sie schmuz witern, wo reinheit herrscht u. denen geben wir gerne einen kleinen denkzettel.

Ferner bittet sie mich: die bedeutung des fon uns gewälten namens der anstalt dahin zu erklären, dass wir keines wegs behaupten die “warheit” gefunden zu haben, monopolisiren zu wolen, sondern dass wir entgegen dem oft lügnerischen gebaren der geschäftswelt, u. dem her konvenzioneler forurteile der geselschaft, danach streben, in wort u. tat “war” zu sein, der lüge zur fernichtung, der warheit zum sige zu ferhelfen.

Fortsetzung