Eine Naturgesellschaft
von Stephan Hansen
die weingärten erhoben sich friedlich entlang der hügel monte veritas.
Zwischen den eingezäunten weinplantagen lagen villen, arbeiter-wohnungen und schloßartige paläste.
Der reichste kaufmann führte hier sein fürstendasein in diesen palais – diese lebten von den trauben und den arbeitern, die die trauben auspressten – sie sammelten reichtümer in massen und bauten türme mit flotten flügeln in die weinplantagen.
Genauso lag der monte verita im sonnenschein im sommer, im windschatten hoher alpenketten auch in den milden wintern – jahraus jahrein.
aber dann kam die weinlaus. Die frass die blätter der weinstöcke, und eine abart dieser insekten, die rotlaus, machte sich auch über die wurzeln der rebstöcke her – die herrlichen weingärten wurden zerstört – alles haben die weinläuse aufgefressen – und mit den gärten verfielen auch die villen und schlösser – die arbeiter wurden arbeitslos – man lebte so noch eine weile von dem letzten rest kapital, bis eine familie nach der anderen sich genötigt sah, die herrlichen wohnungen auf dem monte verita zu verlassen und heimat in anderen gegenden zu suchen.
Als vertriebene arme, als ausgewiesene ausgebeutete ließen sie sich am fuße des monte verita nieder. Die weinlaus hatte sie vertrieben. Nun herrschte diese als alleinherrscherin auf dem berg über aufgelösten weinplantagen und menschenleeren gebäuden.
Unter dem druck verzweifelnder sozialer bedingungen in europas groß-städten beschloß ein kleiner haufen kuenstler, sich eine einsame stelle zu suchen, wo sie ein stilles, einfaches und ungestörtes leben führen könnten, ganz gewidmet ihrer kunst und ganz so, wie ihnen der sinn danach stand.
Sie hörten vom monte verita und zogen vom sanatorium jungbon im harz zu fuß dahin gen süden.
Ihr anführer war ein junger holländer, der über ein großes kapital verfügte, das er dazu benutzen wollte, in liegenschaften dort unten an einer friedlichen stelle als kolonie zu investieren.
Sie durchkämmten die wildnisse dort und fanden eine ruine schöner als die andere, schmucke aussichtstürme, von wo aus man den herrlichen lago maggiore, umkränzt von himmelstürmenden bergketten sehen konnte – man sah gleichsam einen mächtigen saphir gefasst in grüntürkisenem metall. Hier wollten sie sich niederlassen. Hier konnten sie das naturleben realisieren. Sie lebten den traum, den sie erhofft hatten. In dieser herrlichen umgebung war
freiheit von der umwelt und der freieste platz hier in der italienischen schweiz, eine freiheit, die sie so sehr begehrt hatten.
Die bauern der gegend verkauften rasch zu vorteilhaftem preis an die fremden, und schon bald sah man diese merkwürdige herde weißbekleideter über die ruinen der berge verteilt. Überall wanderten sie in langen luftigen gewändern umher – manche sogar in nicht einmal diesen. Was die bauern jedoch am meisten verwunderte war, dass diese fremden sich ausschließlich von grünzeug ernährten, von wurzeln, pilzen, gemüse und früchten, die sie überall wildwachsend in den bergwäldern fanden.
Fünf jahre waren ins land gegangen, ohne dass die bewohner der gegend den begriff vegetarier verdaut hätten – er weigerte sich in ihr bewußtsein zu dringen.
Freilich gingen die bauern selbst barfüßig, selbstverständlich aßen auch sie die vermaledeiten butterblumen, auch brennnesseln aßen sie als salat – aber daß diese feinen fremden das gleiche recht dazu hätten wie sie – nein, da fehlten einem die worte – die fremden mußten vollkommen verrückt sein! Darin waren sich junge und alte einig in ihrem italienischen dialekt.
Da waren ungarn und es gab auch deutsche, da lebten franzosen und holländer, natürlich auch russen – alles barone – männer wie frauen waren gekommen.
Sie hatten sich traurig und matt abgearbeitet als maler, schriftsteller, schauspieler, bildhauer, offizier, arzt und handwerker aller art, da draussen in der großen gesellschaft, an deren vielen stricken, handschellen und sich einfressenden ketten.
Aber es dauerte nicht sehr lange, bis sie entdeckten, dass das, was sie hier gegründet hatten, in wirklichkeit einfach eine andere gesellschaft war, wo sich schon bald gesetze entwickeln würden, wie sie sich in den bekannten systemen entwickelt hatten. Deshalb verteilten sie sich noch weiter im gebirge, wo sich jeder auf sein kleines fleckchen zurückzog, ohne viel kontakt zu den anderen.
Jeder in seiner robinsonade: so stellen sie aus allem was der wald hergibt ihre gebrauchsgegenstände her: so möbel aus astwerk, kleider aus rinden, teppiche aus bast und blattwerk, krüge und schüsseln aus dem lehm des waldbodens. Nur die, die diese mühen scheuten, schlossen sich zusammen um eine naturheilanstalt, die kranke aller gebrechen aufnehmen konnte, während gesunde, frohe und zufriedene menschen ihnen zur hand gingen, den leidenden hoffnung einflößten und sie aufforderten, sich ganz der bitteren kur hinzugeben: wieder zur mutter natur zurückzukehren und dort die wahrheit in ihrem schoß zu finden: mit pflanzen- und fruchtdiät, kalten bädern und luftbädern, ergänzt durch arbeit im freien.
im sanatorium und bei den einsiedern im wald gab es kein familienleben. Männer und frauen lebten jeder für sich – es gab nur ein verheiratetes paar
unter den siedlern. Das einzige kind in dieser eigentümlichen kolonie ist ein vier jahre alter bub.
Führen sie so nur ein familienleben, das nicht der rede wert ist, so versammeln sie sich doch häufig zu gesellschaftlichen treffen (zusammenkünften) im sanatorium zu barfußtanz, hören theosophische vorträge und nehmen teil an konzerten und gemütlichen arrangements, wo jeder das zum besten gibt, was er kann: dabei sind die dazu notwendigen kräfte im überfluß vorhanden: dilettanten und wirkliche künstler sowie alle art aesthetischer lustbarkeit gehören hier zum täglichen graubrot der vegetarier.
Jeder mensch dort hat seine ureigentliche seltsame geschichte, jeder seine eigentümliche filosophie, jeder seine kleinen marotten – aber trotz all dieser unterschiede in ihren lebensanschauungen: vom hedonismus bis zu streng gelebtem ernstem christentum, lebt diese merkwürdige kolonie in frieden und gegenseitigem verstehen in toleranz und bezeugt, wie einfach, umtriebig und fleißig man das leben in zufriedenheit und freude leben kann.
Frem, 17. September 1905, Nr. 51.
Aus dem Dänischen übersetzt von Joachim Koppers.