Die “Naturmenschen” vom Monte Verità (Neuigkeits-Welt-Blatt)

Die “Naturmenschen” vom Monte Verità

Eine Gruppe von deutschen Vegetariern hatte sich vor mehreren
Jahren auf dem Nlonte Veritä, einem bewaldeten Hoch.
plateau in der Nähe von Locarno, zu einer vegetarisch«
komniuiiistischen Siedelung. vereinigt. Man kann diesen
Kolonisten oft in Locarno begegnen, ivo sie in ihren
Lniieiikastaneii, den bloßen Füßen, den Köpfen mit ivild»
ivucheriiden Künstlermähnen eine aufsehenerregende Merk-
ivürdiqkeit für die Fremdenivelt bilden! in Ascona sind
sie auf Schritt und Tritt zu sehen, und die einheimische
Bevölkerung nimmt von ihnen kaum mehr Notiz. Doch
ist die Kolonie nach und nach ihren Grundsätzen etwas
untreu geivorden und hat sich zum Sanatorium für Vege-
tariauer ausgewachsen, das von einem Herrn Oedenkoiven
geleitet ivird. Jeder, der seinen Pensionspreis bezahlt, wird
ausgenommen, ja, die Kurgäste erhalten sogar, wenn sie’s
ivüiischeu, einmal in der Woche Fleisch. Dies bat eine
Sezeffion zur Folge gehabt. Diese S ez es s i o ii ist en
haben sich einzeln in der Umgebung von Ascona, Ronco
und Orselina angesiedelt! sie erwarben die halbzerfallenen
Hütten und Ruinen, die im Teffin so zahlreich sind, riich-
teten diese Behausungen mit ein paar Brettern und Baum­
ästen ivohnlich ein und führen nun bei Pflanzenkost
und Sonnenbädern ein Einsiedlerleben. Der Grundton
der Theorie lautet für alle: „Zur Natur zurück!” „Die Natur
verstehen ist alles”, sagen sie: „das gibt allein Friede, und
ivenn dieser erreicht ist, sieht man auf alles andere über­
legen herab.” Es gibt seltsame Typen in dieser Sondcr-
liiigskolonie, gebildete Menschen und exzentrische Käuze.
Die drolligste Figur soll die „wilde Lotte” sein, eine Ber­
liner Beamtentochter, die in einer Ruine ein Zigeuner­
dasein führt. Als bedeutendste Persönlichkeiten der Kolonie
werden ein ehemaliger deutscher Offizier und seine musi­
kalisch hochbegabt Gattin bezeichnet. Alles, wassieirgend-
iv e selbst schasteii können, kaufen sie nicht bei Hand-
iverkern oder Kaufleuten! wo sie aber kaufen müssen, da
treiben sie Tauschhandel und zahlen dieKrämer mit selbst-
gebauten Früchten. Ja, als die Frau einmal einen
Zahnarzt in Locarno konsultieren mußte, da honorierte
sie mit dem Vortrage einiger Lieder!

Neuigkeits-Welt-Blatt (Wien)