Vor einiger Zeit brachten wir eine Notiz über eine Gruppe von deutschen Vegetariern, die sich vor mehreren Jahren auf dem Monte Verità, einem bewaldeten Hochplateau in der Nähe von Locarno, zu einer ethisch-sozial-vegetarisch-kommunistischen Siedelung vereinigt hatten. Man kann diesen Neuland-Kolonisten heute oft in Locarno begegnen, wo sie in ihren Leinenkaftanen, den nackten Beinen, den Christusköpfen mit wildwuchernden Künstlermähnen eine aufsehenerregende Merkwürdigkeit für die Fremdenwelt bilden; in Ascona sind sie auf Schritt und Tritt zu sehen, und die einheimische Bevölkerung nimmt von ihnen kaum mehr Notiz. In der illustrierten Halbmonatsschrift „Die Schweiz“ gibt nun Hans Schmid-Frauenfeld in einem „Locarnesischen Schlendertage“ überschriebenen Aufsatz u. a. auch eine Schilderung der jetzigen Verhältnisse in der Kolonie. Danach ist sie nach und nach ihren sozial-ethischen Grundsätzen etwas untreu geworden und hat sich zum Sanatorium für Vegetarianer ausgewachsen, das heute von einem Herrn Oedenkowen geleitet wird. Es ist ein Sanatorium wie jedes andere, die Hausordnung ist freier; jeder, der seinen Pensionspreis bezahlt, wird aufgenommen, ja. die Kurgäste erhalten sogar, wenn sie es wünschen, einmal in der Woche Fleisch. Diese Systemänderung hat zur Folge gehabt, daß eine Anzahl von Fanatikern, empört über den Verrat an der guten Sache, dem Monte Verità den Rücken gekehrt haben. Diese Sezessionnisten, die heute weit zahl reicher sind als die Insassen des Vegetarianer-Sanatoriums, haben sich einzeln in der Umgebung von Ascona, Ronco und Orselina angesiedelt; sie erwarben sich um wenig Geld die halbzerfallenen Hütten und Ruinen, die im Teisin so zahlreich sind, richteten diese primitiven Behausungen mit ein paar Brettern und Baumästen wohnlich ein und führten nun bei Pflanzenkost und Sonnenbädern ein abenteuerliches Einsiedlerleben. Diese Sezessionisten sind aber unter sich wieder nichts weniger als einig; jeder scheint seine eigene Theorie zu haben und setzt sie auf seine eigene Art in Praxis um. Einige treiben ihren vegetarischen Fanatismus so weil, daß sie nur Pflanzcn essen, die in die Höhe wachsen und z. B. Kartoffeln, Rüben u. s. w. scharf verpönen; wieder andere ergeben sich dem fröhlichen Trunke nnd singen in den Pinten von Ascona mil den italienischen Arbeitern das Caserio-Lied. Der Grundton der Theorie aber lautet für alle: „Zur Natur zurück!“ „Die Natur verstehen ist alles,“ sagen sie: „das gibt allein Friede, und wenn dieser erreicht ist, sieht man auf alles andere überlegen berab. Sich ausleben, sich an die Natur verlieren, in ihr sich wiederhinden, das schafft Freude und gibt dem Leben Halt und Wert…“ Es gibt seltsame Typen in dieser Sonderlingskolonie, gebildete Menschen, die es mit ihrer Theorie sehr ernst nehmen, und exzentrische Käuze, die wohl auch ein wenig Komödie spielen. Die drolligste Figur soll die „wilde Lotte“ sein, eine Berliner Beamtentochter, die bei Ronco in einer Ruiue das abenteuerlichste Zigeunerdasein führt. Als bedeutendste Persönlichkeiten der Kolonie werden ein ebemaliger deutscher Offizier und feine musikalisch hochbegabte Gattin bezeichnet. Es werden köstliche Anekdoten erzählt über die starre Konsequenz, mit der dieses hochgebildete Ehepaar seine Ideen in dic Praxis umsetzte. Alles, was sie irgendwie selbst schaffen können, kaufen sie nicht bei Handwerkern oder Kaufleuten; wo sie aber kaufen müssen, da treiben sie Tauschhandel und zahlen die Krämer mit selbstgebauten Früchten. Ja, als die Frau einmal einen Zahnarzt in Locarno konsultieren mußte, da honorierte sie mit dem Vortrag einiger Lieder! Und man ist in Locarno liebenswürdig genug, sich auf solcke originelle Art bezahlen zu lassen. Die freie Ehe ist in der Kolonie von Ascona stark verbreitet; diese Ehen sollen aber ohne Ausnahme kinderlos sein. Die Gemeindebehörden und die tessinische Regierung haben in sehr weitherziger Weise die „Naturmenschen“ bis jetzt in ihrem Tun und Treiben nicht gestört.
Neue Hamburger Zeitung, 11. Jahrg. 10. Mai 1906, 2. Beilage zu Nr. 216. Online