Das Interessanteste aber, was das heutige Ascona zu bieten hat, ist seine Kolonie von „Naturmenschen“. Man begegnet vereinzelten Exemplaren dieser Sonderlinge oft in Locarno, wo sie in ihren Leinenkaftanen, den nackten Beinen, den verzeichneten Christusköpfen mit wildwuchernden Künstlermähnen eilte aufsehenerregende Merkwürdigkeit für die Fremdenwelt bilden; in Ascona aber sind diese seltsamen Menschen auf Schritt und Tritt zu sehen, und die einheimische Bevölkerung nimmt von ihnen kaum mehr Notiz. Ich habe mir Mühe gegeben, über diese eigentümliche Kolonie kompetenten Aufschluß zu erhalten, und Folgendes in Erfahrung gebracht. Vor etlichen Jahren hat sich ei» Häuflein von deutschen Vegetariern auf dem „Monte Verità“, einem bewaldeten Hochplateau in der Nähe von Locarno, angesiedelt. Es war ursprünglich eine ethischsozial-vegetarisch-kommunistische Siedlung, die dann nach n»d nach ihren sozial-ethischen Grundsätzen etwas untreu geworden ist und sich zum Sanatorium für Vegetarianer ausgewachsen hat, das heute von einem Herrn Oedenkowen geleitet wird. Herr Oedenkowen sei ein hochgebildeter, geistig sehr bedeutender Mann, seine Frau eine hervorragende, musikbegabte Künstlerin. Das Sanatorium auf dem Monte Verità hat seinen komunnistischen Anstrich mit dem idealen Zusammenleben und einer fünfstündigen Arbeitszeit nicht lange aufrecht erhalten können, weil eben selbst die gescheitesten und genügsamsten Menschen ohne Vermögen und ohne geldbringenden Erwerb nicht zu leben vermögen. So hat denn die Kolonie auf dem Monte Verità nach und nach kapitalistische Allüren angenommen. Es ist heute ein Sanatorium wie jedes andere, die Hausordnung ist freier; jeder, der seinen Pensionspreis bezahlt, wird aufgenommen, ja, die Kurgäste erhalten sogar, wenn sie’s wünschen, einmal in der Woche Fleisch. Diese Systemändernng hat zur Folge gehabt, daß eine Anzahl von Fanatikern, empört über den Verrat an der guten Sache, dem Monte Verità den Rücken gekehrt haben. Diese Sezessionisten, die heute weit zahlreicher sind als die Insassen des Vegetarianer-Sanatoriums, haben sich einzeln in der Umgebung von Ascona, Ronco und Orselina angesiedelt; sie erwarben sich um wenig Geld die halbzerfallenen Hütten und Ruinen, die im Tessin so zahlreich sind, richteten diese primitiven Behausungen mit ein paar Brettern und Baumästen wohnlich ein nnd führen nun bei Pflanzenkost und Sonnenbädern ein abenteuerliches Einsiedlerleben. Diese Sezessionisten sind aber unter sich wieder nichts weniger als einig; jeder scheint seine eigene Theorie zu haben und setzt sie auf seine eigene Art in Praxis um. Einige liebäugeln offen mit dem Anarchismus, andere treiben ihren vegetarischen Fanatismus soweit, daß sie nur Pflanzen essen, die in die Höhe wachsen, und z. B. Kartoffeln, Rüben etc. scharf verpönen; wieder andere ergeben sich dem fröhlichen Trunke und singen in den Pinten von Ascona mit den italienischen Arbeitern das Caserio-Lied. Der Grundton der Theorie aber lautet für alle: „Zur Natur zurück!“ „Die Natur verstehen ist alles,“ sagen sie; „das gibt allein Friede, und wenn dieser erreicht ist, sieht man auf alles andere überlegen herab. Sich ausleben, sich an die Natur verlieren, in ihr sich wiederfinden, das schafft Freude und gibt dem Leben Halt und Wert…“ Es gibt seltsame Typen in dieser Sonderlingskolonie, gebildete Menschen, die es mit ihrer Theorie furchtbar ernst nehmen, und exzentrische Käuze, die wohl auch ein wenig Komödie spielen. Die drolligste Figur sei die „wilde Lotte“, eine Berliner Beamtentochter, die bei Ronco in einer Ruine das abenteuerlichste Zigeunerdasein führt. Als bedeutendste Persönlichkeiten der Kolonie wurden mir ein ehemaliger deutscher Offizier nnd seine musikalisch hochbegabte Gattin bezeichnet. Es werden köstliche Anekdoten erzählt über die starre Konsequenz, mit der dieses hochgebildete Ehepaar seine Ideen in die Praxis umsetzt. Alles, was sie irgendwie selbst schaffen können, kaufen sie nicht bei Handwerkern oder Kaufleuten; wo sie aber kaufen müssen, da treiben sie Tauschhandel und zahlen die Krämer mit selbstgebauten Früchten. Ja, als die Frau einmal einen Zahnarzt in Locarno konsultieren musste, da honorierte sie mit dem Vortrag einiger Lieder! Und man ist in Locarno liebenswürdig genug, sich auf solch originelle Art bezahlen zu lassen. Die freie Ehe ist in der Kolonie von Ascona stark verbreitet; diese Ehen seien aber ohne Ausnahme kinderlos. Die Gemeindebehörden und die tessinische Regierung haben in sehr weitherziger Weise die „Naturmenschen“ bis jetzt in ihrem Tun nnd Treiben nicht gestört.
Einen schönen Fleck Erde hat sich die Kolonie der Naturmenschen für ihren vegetarisch-ethischen Mummenschanz ohne Zweifel ausgesucht. Der Uferstrich von Ascona »ach Brissago hinab ist eine der schönsten Gegenden des Tessins, und eine Wanderung auf dieser herrlichen Uferstraße hinterläßt die schönsten Erinnerungen.
Hans Schmid, Die Schweiz, 10. Jahrg., 1906 S. 206-207. Online
Beim wiedergegeben Taxt handelt es sich um einen Auszug des Beitrags.