Transkription
Von V. Straskraba in Ascona
Ueber die Vegetarierkolonie am Lago Maggiore wurde in letzter Zeit wieder viel geschrieben. Besonders schweizerische, noch mehr aber reichsdeutsche Zeitungen und verschiedene Zeitschriften warteten ihren verblüfften Lesern mit „packenden“ Berichten der verschiedensten Art auf. So hieß es, diese Vegetarier und Naturmenschen verkröchen sich in selbst gegrabenen Höhlen und nur etliche (wohl die am Komfort hängenden unter ihnen?) hausten in ruinenhaften Bauten. Kamm und Seife wurden als Attribute eines glücklich überwundenen Standpunktes kau benützt, ja manche gingen so weit, jegliche Bekleidung für puren Luxus zu erklären. Sie spazierten splitternackt umher und überliessen die Sorge für die Erhaltung der bei der zivilisierten Menschheit üblichen Körperwärme der Frau Sonne.
Der Besuch und zweiwöchentliche Aufenthalt des Herrn Wöfling brachte die kaum beruhigten Tintenfluten zu neuem Wogen. Bald wurde gemunkelt, daß Frau Wölfling an solch zwangloser Lebensweise viel Gefallen gefunden habe; schon vernachlässige sie ihre Toilette und – kämme ihre Haare nicht mehr! Sie dränge ihren Gemahl, der sich mit der vegetarischen Lebensweise begnügen wolle, in das extreme Lager der Naturmenschen. Eine Ehescheidung stehe demzufolge in Aussicht etc. etc.
So kam es, daß das P. T. Publikum teils aus seiner Empörung und seiner „gerechten Entrüstung“ ob solcher Anstößigkeiten noch mehr aber aus der Neugierde, noch mehr und „Pikanteres“ zu erfahren, gar nicht herauskam.
Hier aber, im Lager der Vegetarier, merkte man die Absicht und wurde – nicht verstimmt. Im Gegenteil, man besprach diese Berichte meist in amüsierter Weise und fand sie – köstlich. Man konnte sie doch nur den Fabeln zuteilen, die teils aus Unkenntnis der wahren Lage der Dinge an trüben Quellen schöpften, teils nur „Interessantes“ zu bieten, erstere entstellt wiedergaben. Einige freilich meinten, solche Berichte fänden – im Neide ihren Ursprung. Man fühle sich da draußen umgeben von dem nervenbedrückenden Menschengetriebe mit seinem erbärmlichen Trug- und Scheinleben als angeketteter Sklave. Man möchte – ach wie gerne – diesem Dasein entfliehen, könne aber nicht, besitze meist nicht die Macht und Kraft, die Sklavenketten zu zerreißen.
Betrachten wir aber nun die Zustände hier, wie sie sich dem objektiven Auge darbieten. Wir werden vielleicht weniger „Pikantes“, umsomehr aber der näheren „Beachtung“ wertes finden:
Die Vegetarierkolonie Ascona am Lago-Maggiore ist 3 Km. von der Stadt Locarno entfernt. Letztere wird, wie die ganze Küste dieses Sees, ihrer reizenden Lage und des selten milden Klimas wegen von Fremden viel besucht. Dieser 60 Kilometer lange und 3-5 Kilometer breite, herrlche, von Dampfern befahrene See gehört nur in seinem oberen kleineren Teile der Schweiz an. Hier von hohen, bis in den Sommer hinein mit Schnee bedeckten Bergen umschlossen, verflachen sich seine Ufer allmählich bis in die lombardische Ebene. Hier am bergumkränzten Schweizer Obersee, von dem mächtigen Wall des St. Gotthard vor den rauhen Nordwinden geschützt, sehen wir uns in eine entzückende Landschaft von üppiger südlicher Vegetation versetzt. Die an der Seestrasse im nackten Fels wurzelnden Aloen sowie herrliche Palmen, Lorbeerbäume und andere Kinder einer südlichen Flora sprechen in überzeugender Weise für die Milde des Klimas. Sie äußert sich aber auf doppelt angenehme Weise: Kurze, milde Winter und lange, warme, aber nicht erschlaffend heiße Sommer. Ist es da zu verwundern, daß eine Landschaft mit solchen klimatischen Vorzügen von jeher für Vegetarier viel Anziehendes hatte? Und in der Tat nicht nur die Stadt Locarno mit ihren Vororten Monte Trinita und Orselina, sondern auch die ganze etwa 12 Km. lange Schweizer Seestrecke mit den Städtchen Ascona und Brissago, dem Dorfe Ronco, sowie deren Gebiet dienen zahlreichen Vegetariern zum ständigen Aufenthalt. Wenn aber doch meist nur über die Vegetarier bei Ascona gesprochen und geschrieben wird, so hat dies seine besonderen Gründe. Während nämlich die übrigen Vegetarier am Lago Maggiore teils abseits von den Gemeinden in einsam gelegenen, von Gärten umgebenen Häusern oder aber in den Orten selbst in Privathäusern oder vegetarischen Pensionen wohnen, werden sie teils in ihrer Abgeschiedenheit nicht beachtet, teils verschwinden sie in den größeren Gemeinden unter deren Einwohnern und den Fremden. Dies ist umsomehr der Fall, als manche verschiedener größerer oder kleinerer hiermit verbundener Unannehmlichkeiten wegen es möglichst vermeiden, sich in ihrer Toilette von ihren lieben Mitmenschen merklich zu unterscheiden. Sie leben gewissermaßen als Inkognitovegetarier unter der Menge.
Ganz anders sind aber die Verhältnisse hier bei Ascona. Hier erhebt sich teils oberhalb des Städtchens, teils unmittelbar aus dem See emporsteigend, ein ausgedehnter Hügel on ahnsehnlicher Höhe und abwechslungsreicher Gestaltung. Seine Fläche wird von den zahlreichen größeren und kleineren, oft terrassenförmig angelegten Wein- und Obstgärten der Bürger des Städtchens Ascona eingenommen. Am obern Teil bilden kleinere Waldbestände (meist edle Kastanien mit eingesprengten Eichen, Birken, Eichen) angenehme Abwechslung. Hier also, zwar in der Nähe eines Ortes, aus dem sie die alltäglichen Lebensbedürfnisse bequem beziehen, aber doch weit genug von der nichtvegetarischen Menschengemeinschaft, um unbeeinflußt von derselben in Wohnung, Nahrung und Kleidung, kurz in jeder Hinsicht eine naturgemäße, also hygienisch richtige Lebensweise führen zu können, hat sich eine Anzahl Vegetarier niedergelassen. Es ist nämlich jeder Vegetarier logischerweise mehr od. weniger Naturmensch; mancher nur in der Theorie, mancher auch in der Praxis und zwar in allen Abstufungen derselben bis zum äußersten Radikalismus. Nur zu auffälliger oder Aergernis erregender Widerspruch mit der herrschenden Sitte vermag dann seine Neigungen zu zügeln. Aber eben deshalb muß der mitunter glänzenden Behauptung, daß die Bekleidung der Vegetarier von Ascona eine derartig mangelhafte sei, daß sie Aergernis errege, entschieden entgegengetreten werden. An unbedecktem Kopfe und Beinen, von den Knien abwärts, kann man ebensowenig Anstößiges finden, als man an der ähnlichen Volkstracht der Tiroler und der schottischen Hochländer etwas Ungehöriges sieht. Es ist aber auch sonst kein Grund vorhanden, den Vegetariern der Kolonie Ascona ihre Lebensweise zu verübeln, das sie weder das Anstandsgefühl verletzt, noch auch im Uebrigen die nicht vegetarisch lebende Menschheit beeinträchtigt.
Das wir schon gleich eingangs von der Vegetarierkolonie bei Ascona sprechen, so ist es hier am Platze, diesbezügliche irrige Anschauungen zu berichtigen.
Viele Besucher kommen mit der irrigen Anschauung nach Ascona, hier eine organisierte Vegetariergemeinde zu finden, eine Vereinigung von Menschen etwa, die nach bestimmten für Alle verbindlichen Satzungen leben, ein Gemeindehaus besitzen, einen gewählten Vorstand haben und öftere Versammlungen abhalten. Dem ist aber durchaus nicht so. Es liebt vielmehr ein Jeder für sich ganz nach seinem Geschmack in jeder Hinsicht. Menschen von so ausgeprägtem Charakter und Unabhängigkeitssinn, wie es die Vegetarier zumeist sind, in eine gebundene Organisation zu fassen, wäre auch keine leichte Aufgabe. Da aber die hiesigen Vegetarier – fast alle Reichsdeutsche – ihre Heimat verlassen und sich hier unter anderssprachiger Bevölkerung, wenn auch unabhängig von einander angesiedelt haben, so kann man deren Gesamtheit mit Recht unter den Begriff einer Kolonie zusammenfassen, der durch den Umstand, daß sie zum größten Teil das Land erworben haben und dasselbe bebauen, nur noch eine erhöhte Bedeutung erhält.
Wir erwähnten schon früher, wie es die meisten Vegetarier bezüglich ihrer Toilette halten. Einen Bestandteil derselben bilden auch die Sandalen; Kopf- und Barthaare lassen aber die meisten ungeschoren. Also Rock oder Bluse, Kniehosen und Sandalen ist das Minimum an Toilette eines Vegetariers. Es sind mithin noch immer einige dem dam unbekannt gebliebene Kleidungsstücke in Gebrauch.
Die Wohnungen der hiesigen Vegetarier bestehen entweder in grösseren oder kleineren, meist schon vorhanden gewesenen oder nur zweckmäßig umgebauten Landhäuschen oder in ganz netten Villen. Beide Arten von Wohnungen haben aber – wenn auch darunter manche recht einfach eingerichtete sich befinden – selbst bei lebhaftester Fantasie weder mit Höhlen noch mit Ruinen die entfernteste Aehnlichkeit. Wahr ist aber, daß es hier in verschiedenen Gärten eine ganze Anzahl wirklicher Ruinen gibt, die sich mit geringen Kosten in sehr behagliche Land- und Gartenhäuschen umbauen lassen.
Was die famose Kamm- und Seifenfrage anbelangt, so scheint es uns überflüssig, darüber viel Worte zu verlieren. Wenn jemand sein Haar lang wachsen und dasselbe über die Schultern sich frei herabwallen läßt, so hindert ihn doch nichts daran, demselben sonst volle Pflege angedeihen zu lassen, wie dies hier auch tatsächlich der Fall ist. Es gehört im Gegenteil Körperpflege und Reinlichkeit mit zu den Grundsätzen einer naturgemäßen Lebensweise, worin ja, wie in vielem anderen, der natürliche Reinlichkeitssinn der verschiedensten Tiere manchem „Schmutzfinken“ ein nachahmenswertes Beispiel gibt.
Das Mittel hiezu ist hier eben freilich nur in bescheidenem Maße vorhanden. Man muß sich eben mit den 2-3 Quellen begnügen, die aber von Manchen recht entfernt sind. Uebrigens kommen dieselben meist nur für Trinkwasser und eventuell zum Kochen in Betracht. Wo es sich aber um größere Mengen von Nutzwasser handelt, wird zu Zisternen Zuflucht genommen, mit Zement gemauerten Behältern, in denen das Wasser der Dachtraufen gesammelt wird. Mit der Einführung der schon ausgebauten Wasserleitung wird auch dieser einzige Uebelstand der Kolonie in Bälde beseitigt sein.
Welch gute geistige Verdauung man dem Leser oft zumutet, mag auch daraus entnommen werden, daß seinerzeit über Frau Wölfling nebst anderen läppischen Behauptungen auch die zu lesen war, daß sie ihr Haar nicht mehr kämme. Der Wahrheit entsprechender hätte es aber heißen müssen, daß sie sich von der Friseurin emanzipiert habe und ihr selbst gekämmtes Haar frei herabwallen lasse. Wenn auch sonst noch nach Scheidungsgründen des Ehepaars Wölfling gesucht wird, so wären sie noch viel – geistreicher in der Verschiedenheit der aus Charakteranlage und Jugenderziehung entspringenden Lebensauffassung zu begründen. Es haben auch Erzherzogskinder meist andere Ideale als Beamtenkinder.
Bemerkenswert ist der Umstand, daß die zumeist aus Junggesellen-Haushalten bestehende Vegetarier-Kolonie Ascona so viele künstlerisch (Malen, Musik, Gesang) und literarisch sich betätigende Mitglieder zählt, daß sie häufig auch als Künstler-Kolonie bezeichnet wird. Auch einige Aerzte befinden sich unter den Vegetariern von Ascona. an wird also wohl zugeben, daß es eben nicht den Zurückgebliebenen beizuzählende Elemente sind, aus denen sie sich hauptsächlich ergänzt.
Das weibliche Element ist hier schwächer vertreten. Es bevorzugt offenbar das im allgemeinen mehr Zerstreuung und Anschluß gewährende Locarno und seine Vororte.
Nicht mit der Vegetarier-Kolonie zu verwechseln oder sonst in Verbindung zu bringen ist das den Gipfel des Hügels einnehmende Sanatorium „Monte verita“ für physikalisch-diätetische Heilweise, mit Wasser-, Licht-, Luft- und Sonnenbädern, bei vegetarischer Ernährungsweise. Besonders den Sonnen-Bädern wird viel Bedeutung zugemessen.
Es kann wohl sein, daß neugierige Augen durch die Spalten der Einplankung des Sonnenbades einen oder mehrere Kurgäste im Adamskostüm erspähen, worauf solches, um dem Sensationsbedürfnisse des Publikums zu genügen, möglichst entstellt veröffentlicht wurde. Neugierige Augen dringen ja mitunter auch durch die Spalten der Scheidewände gewöhnlicher Badeanstalten, es pflegt die zugehörige Person aber aus triftigen Gründen das Geschaute weder in wahrer noch in entstellter Weise auszuposaunen. Hiermit wäre aber auch der Ursprung des Märchens von den im Adamskostüm herumspazierenden Anhängern der naturgemäßen Lebensweise erklärt.
Tages-Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich, 22. Mai 1907, Nr. 117, S. 1 f.
Zum Autor
Der Tolstoi-Anhänger Vladimir Straskraba (1852-1934) kam 1906 aus Ungarn, wo er als Ingenieur bei der Donauregulierung arbeitete, nach Ascona.
1908 liess er seine Frau Maria und seine Kinder, die Töchter Anna, Maria und Olga und seinen Sohn Laszlo, aus Ungarn nachkommen. Im selben Jahr gründete er die Volksküche und Herberge „Heidelbeere“ und begann, die Zeitschrift für Freunde von Ascona-Locarno und naturgemässer, vegetarischer Lebensweise herauszugeben.
Die strenge Heidelbeere, Rigasche Zeitung, 27. September 1912.
Beiträge mit identischem oder fast identischem Inhalt:
- Die strenge Heidelbeere, Neue Hamburger Zeitung, 12. Oktober 1912.
- Die strenge Heidelbeere, Schweizer Hotel-Revue (Basel), 12. Oktober 1912.
- Das erzieherische Speisehaus, Grazer Tagblatt, 24. Oktober 1912.
1913
Bilder von meiner Wanderfahrt (Nr. 8), Ludwig Ankenbrand, in: Die Lebenskunst, 16. April 1913.
1919
Tessiner Saisonbilder (Auszug), M. Doering, Berliner Börsen-Zeitung, 1. Mai 1919.
Veröffentlichungen
Russische Reiseschilderungen.
Literatur
- Edith Hanke, „Max Weber, Leo Tolsty and the Mountain of Truth“, in: Max Weber and the Culture of Anarchy, Hrsg. von Sam Whimster, New York 1999. Über Straskraba S. 145.
- Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Civitanova Marche, Tegna und Milano 1978, S. 62.