Der Ehekonflikt Leopold Wölflings…

Der Ehekonflikt Leopold Wölflings, des ehemaligen österreichischen Erzherzogs, dessen Gattin durch ihren Vegetarismus ihrem Gemahl inangenehm geworden ist. lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vegetarianer- und Naturmenschenkolonie in Ascona, wo auch Frau Wöfling sich am liebsten aufhalten soll. Wir lesen über diese Kolonie:

Ascona ist eina halbe Stunde von Locarno entfernt. Gleich rechts beim Eingang zum Dorfe führt eine Straße zu dem ungefähr 150 über dem See liegenden Monte Verità, dem Zentralpunkt der Niederlassung. Ein primitiver Bretterzaun umgibt den Hügel und soll die Niederlassung von der profanen Welt abschließen. Gegen zwei Franken Eintrittsgeld wird aber auch der Profane zur Besichtigung zugelassen.

Die Männer tragen langes, fliegendes Haar und Stirnbänder, sowie phantasiereiche Gewänder, ähnlich der Hirten am Jordan; die Frauen hemdartige Kleider. Alle ohne Strumpf und Schuh. Kleine, schwarzbraune Holzhütten sind die Wohnstätten dieser „neuen Menschen“, wie sie sich nennen. Obst und Brot ist die Nahrung, letzteres wird aus grobem Schrot gekocht, nicht gebacken. Für besondere Fälle kocht die Genossin des Gründers auch ein Gemüse, doch ohne Salz, das überhaupt streng verpönt ist.

Der Gründer ist ein ehemaliger belgischer Konsul. Ein kurzes Hemd bekleidete ihn, wenn er mit dem Eselswagen zu Markt fuhr. Als er einmal wegen dieser allzu dürftigen Kleidung beanstandet wurde, ließ er sich einen langen Samtschlafrock machen, den er nun in der Außenwelt benützt. Ein orangefarbenes Seidenband ziert seine Stirne. Für die Wunderkuren, die in Aussicht gestellt und, wie wenigstens behauptet wird, auch ausgeführt werden, gibt es nur zwei Mittel: Sonnenschein und nassen Lehm.

Uebrigens haben sich auch hier bereirs Parteiungen gebildet. Einzelne haben sich ein Stück Land, machmal mit einer Almhütte, manchmal mit einer Ruine oder doch mit den Steinen, die von eingestürzten Mauern herumliegen, gekauft, und sich ein Häuschen aufgerichtet. Auf ganz unwegsamen Felsen finden wir plötzlich eine kleine Ansiedlung. Dort haust einsam ein Junggeselle; Haar und Bart sind ihm lang gewachsen, sein einziges Hemd hängt darußen und wartet bis der Regen, den nötigen Reinigungsprozeß vollzieht.

Der Einsiedler träumt, im Sonnenschein liegend, von einem Zukunftsstaat ohne Arbeit, und wenn er hungrig ist, sucht er Beeren im Wald oder auch einen Genossen auf, der noch Vorräte hat. Verschiedene Ehepaare wohnen in den kleinen Häuschen in Schluchten mitten im Wald oder auf einerscharfen Bergkuppe oder auch dicht am See.

Sie alle ringen nach einem von Kultur möglichst freien Leben. Viele treiben Politik oder Kunst. Aber noch mehr Leben im dolce far niente.

Grütlianer, 57. Jahrg., 7. Januar 1907, Nr. 4. Online