Frau Wölfling und die Naturmenschen

Wie bekannt, soll die zwischen Leopold Wölfling und seiner Frau herrschende augenblickliche Spannung darauf zurückzuführen sein, daß Frau Wölfling sich vollständig der Lebensweise angeschlosscn habe, die die “Kolonie der Naturmenschen” bei Ascona am Lago Maggiore führt. In einigen Blättern wurden sogar schauerliche Schilderungen von der Lebensweise dieser Leute entworfen, die sich in Lehmhütten aufhalten, die tief in die Erde eingegraben werden, ihr Aeußeres vernachlässigen, nackt umhergehen etc. In den “Münchener Neuesten Nachrichtcn” nimmt nun ein in in Ascona lebender Schriftsteller Gelegenheit, diese falsche Meinung von den “Naturmenschen” von Ascona zu zerstören. Er spricht zuerst die Meinung aus, daß der Konflikt zwischen dem ehemaligen Erzherzog und seiner Frau unmöglich auf die Hinneigung der Frau zu der “vegetarischen Lebensreformbewegung” zurückgeführt werden könnte und fährt dann fort:

“Wir Tessiner Asconesen erhalten täglich Zu schriften des Abscheues, daß man wagen konnte, unsere herrliche Gegend, unsere gesunde Lebensweise, unsere ganze Lebensreformbewegung, die nur nach dem Schönen und Geschmackvollen hinneigt, derartig in den Schmutz zu ziehen. Daß bei Ascona einige Menschen leben, die, da sie nahezu mittellos sind, innerhalb ihrer kleinen Grundstücke in alten Kleidern, oder in der Glühhitze des Sommertages fast ohne Kleider spazieren, wen sollte das genieren? Sieht man nicht in jeder Großstadt Existenzen, die wahrlich elender herumlaufen und elender leben wie diese Paar Sonderlinge bei Ascona, die von ihrer Polenta leben, genau, wie alle ansässigen Tessiner, und die sich die Sonne in den Mund scheinen lassen! Was haben diese Menschen, die ihr Glück darin sehen, so zu leben, mit der modernen Bewegung zu tun, die innerhalb unserer übersatten Zeit die Rückkehr zu Einfachheit und Mäßigkeit anstreben? Rein gar nichts. Mir dünkt, viele wissen gar nicht, was eine Lebensreformbewegung eigentlich will. Was muß die Tessiner Kantonalregiernng denken, wenn sie den Blödsinn liest, daß ‘bei Ascona die Menschen fast nackt herumlaufen mit wenigen Fetzen am Leibe’! Als wenn hier am Lago Maggiore Ausnahmezustände herrschten! Hat man doch selbst auf ‘Monte-Verità’, einem prächtig gelegenen, modern komfortablen vegetarischen Sanatorium die Luft- und Sonnenbäder gut und stark mit hohen Bretterwänden umzäumen müssen, obwohl diese Lustbadeparks auf einem fast unzugänglichen, kluftigen Hügel liegen! Nein, so schlimm sind doch die Zustände hier bei uns nicht. Ich möchte sagen, im Gegenteil! Hier bei Ascona, speziell auf ‘Monte-Verità’, dem Besitztum Henry Oedenkovens, liegen die Keime einer verbesserten Lebensweise. Die Segnungen unserer Kultur werden nicht verachtet, aber ein mäßiger, nützlicher Geist sondert das Schädliche vom Guten, das Nützliche vom Verkehrten. Man kann mit Bestimmtheit annehmen, daß Frau Wölfling in ihrem sehr guten Draug nach einer vernünftigen Haushaltung nicht an die richtige Adresse kam, kein gutes Vorbild fand. War der ehemalige österreichische Offizier, namens Gröser [sic!], der bei Ascona wohnt und ein Regimentsgenosse des gewesenen Erzherzogs gewesen ist, der Einzige, den Frau Wölfling imitiert, dann braucht man sich nicht zu Wundern, daß sie dem Extrem verfiel. Denn gerade dieser Mann — der bereits an seinem Körper die Schädlichkeit seiner allzu Primitiven Lebenshaltung verspüren muß — kann kein Vorbild genannt werden für die gute Bewegung der modernen Lebensreformer. Dieser Offizier, zu dem Frau Wölfling oft gepilgert sein soll, wohnt unterhalb des Sanatoriums Monte-Verita in einer mangelhaft überdachten Steinruine. Er war, wie schon erwähnt, ein Regimentsgenosse des früheren Erzherzogs und beide Mitglieder eines damals existierenden Klubs, der sich “O. Z.” nannte, das heißt ohne Zwang. Man grüßte sich nicht außerhalb der militärischen Dienstzeit und suchte dem vermeintlichen Militärzwang auf alle mögliche Art zu entgehen. Damals mag in beiden der Keim groß geworden sein, der dann beide in ein neues und neuartiges Leben zog. Daß dem gesunden Geist Leopold Wölflings das jetzige Leben seines früheren Kameraden nicht imponieren will, ja, daß er über ihn als einen Sonderling spötteln wird und damit die gesunde Naturbewegung verachtet, die auch unbedingt ihre günstigen Seiten hat, das kann uns nicht wundernehmen. Jedenfalls wird kein vernünftiger Mensch glauben, daß diese sicherlich vorübergehende extreme Richtung ihres Dranges nach gesunder Entwicklung bei Frau Wölfling der Anlaß zu einer Scheidung sein wird. Frau Wölfling sollte sich aber einmal in der Welt umsehen — und sie kann schon bei ihrem liebgewordenen Ascona das Richtige finden —, wo der beste Platz zur Ausreifung ihrer nur guten Ideen zu finden ist. Sie würde merken, daß ihr Tausende zujubeln, die gleich ihr nach einer Lebensreform trachten, wenn sie innerhalb der heutigen Kultur das Wahre und Gute sucht, und sie würde entdecken, daß wenn sie gleichzeitig, wie jeder höher entwickelte Mensch, der Schönheit entgegengeht, auch ihr Gatte erneut eine große Zuneigung zu ihr finden wird, da sie ihm dann ja nur alles das entgegenbringt, was das Erstrebenswerte im menschlichen Dasein genannt werden muß. Mögen diese Zeilen beruhigend auf diejenigen wirken, die schon annehmen mochten, daß bei Ascona derartig ungesunde Zustände herrschten. Ein paar Ausnahmen gibt es überall, ebenso überall ein paar vergnügt lächelnde Sonderlinge; aber Locarno, Ascona, überhaupt das ganze Schweizerufer des Lago Maggiore ist völlig frei von ‘in Fetzen herumlungernden Naturmenschen, die in Lehmhöhlen wohnen, tief im Boden eingegraben’.”

Die Zeit (Wien), 6. Jahrg., 7. Januar 1907, Nr. 1541, S. 3. Online