Wir haben jüngst unter diesem Titel aus der Feder Karl Morburgers eine Reihe von Feuilletonss veröffentlicht, in welchen auch der durch die Ehescheidungsaffaire des Ehepaares Wölfling bekanntgewordene Ort Ascona am Lago Maggiore erwähnt war. Mit Bezug darauf schreibt uns nun Frau Ida Hofmann-Oedenkoven aus Ascona: Erlauben Sie mir Ihr Leserpublikum in Folgendem zur richtigen Würdigung der dort seitens „Einiger“ in jahrelanger harter Pionnier und in durchaus kulturell-reformatorischem Sinn verfochtenen Bestrebungen zu bringen. Es existiert keine „Kolonie“ in Ascona sondern einzelne unter einander ganz unabhängige Ansiedler unterthalten da ihr Haus und Land, deren stellenweise Originalität kein Recht zur Verurteilung eines „Ganzen“ gibt. Wenn der Schreiber besagter Zeilen das oberhalb Ascona befindliche Sanatorium Monte Verita einer eingehenden Prüfung unterzogen hätte, so würden ihn dessen vorzüglichen Einrichtungen im Sinne modernster Hygiene (nach den Mustern der bekanntesten Naturheilstätten Deutschlands und Oesterreichs), geistiger Anregung durch Kunst und Literatur, sowie das gewählte Publikum, das es zu seinen Besuchern zählt, eines Besseren belehrt haben. Die Menschen, welche dort schaffen, folgen nicht „primitiven Bedürfnissen, sondern dem Bedürfnis der dem verfeinerten gesunden Lebensgenuß huldigenden Aetheten. Ihre ganze Kultur ist „Hygiene“ nur insoweit, als sie dieselbe zur Heilung Anderer und zu ihrer großen Leistungsfähigkeit bedürfen. Ihre „soziale Moral“ besteht nicht „in der guten Verdauung“, sondern in der Arbeit zum Zwecke der Regeneration des Menschngeschlechts. Sie streben nach Einigkeit, scheuen aber als Bahnbrecher vor dem notwendigen Kampf der Kontraste in einer Gährungsepoche nicht zurück. Jede Reformbewegung zeugt ihre Extreme, ihre Fanatiker, ihre Opfer, welche der Größe der Aufgabe nicht gewachsen waren. Man verkenne jedoch nicht die neuegeschaffenen, positiven Werte einer von fortgeschrittenen Geistern getragenen Reform. Man prüfe jedenfalls ihre nachweisbaren Resultate, bevor man, der öffentlichen Meinung gehorchend, sie verurteilt und ihren Aposteln Arbeit und Wege erschwert. Frau Wölfling, die Frau des ehemaligen Erzherzogs Leopold von Toscana, hat in Ascona weder Anschluß gesuchtnoch gefunden, sondern hielt sich nur ganz vorübergehend vor cirka drei Jahren bei einem der Ansiedler zum Besuch auf.
Prager Tagblatt, 31. Jahrg., 2. August 1907, Nr. 211, S. 6. Online: Vom Genfersee zum Gardasee.