Das Ende der Vegetarierkolonie in Ascona

Man schreibt uns aus Bellinzona: Die Vegetarierkolonie, in der sich auch seinerzeit die Frau Wilhelmine Wölfling in der Kunst, ein “naturgemäßes Leben” zu führen, unterweisen ließ, hat sich wegen mangelnden Besuchern, die die “Rückkehr zur Natur” dort finden wollten, anfgelöst. Wahrscheinlich ist den Leuten da oben auf dem “Monte Verita”, dessen Fuß der Lago Maggiore umspült, mit der Zeit das Wurzel- und Kräuteressen aus die Dauer doch zu öde geworden, und reuig kehrte einer mach dem anderen zu den wohlgefülllen Fleischtöpfen Aegyptens zurück. Und schließlich ist der Mensch doch ein Mensch und kein Wiederkäuer… Gegründet von einem Holländer namens Oedenkoven-Hoffmann vor ungefähr zehn Jabren, erfreute sich diese Kolonie erst eines sehr zahlreichen Zuspruches, nicht nur von den Leidenden, sondern auch von Gesunden, die sich dort einige Zeit lang in paradiesischer Nacktheit herumtummeln wollten. Heute vermietet Herr Oedenkoven nicht nur die einzelnen Häuschen an Profane, sondern möchte am liebsten den ganzen “Monte Verita” verkaufen, wenn ihm ein halbwegs annehmbarer Preis geboten würde, um irgendwo anders auf Grund der bisher gewonnenen Erfahrungen eine neue Heilstätte zu errichten. Seine Lehre war sehr einfach. Er sagte, die Ursache aller Krankheiten komme nur vom Fleischgenusse und von den Salzen, die die Gesundheit untergraben. Deshalb sei es nörig, daß die Menschheit sich des Fleischgenusses enthalte, um so ihre Kraft, Gesundheit und Schönheit des Körpers wiederum zurückzugewinnen. Nebst recht leichter Kleidung und ausschließlichem Aufenthalte in der frischer Luft. Puritanisch streng in seinen Sitten, verwarf er alles, was irgendwie mit der Kultur zusammenhing. Es gab in den leichten Lufthütten kein Bett Bett. keinen Tisch, keinen Stuhl. Das alles war nur dazu da. die Menschheit zu verweichlichen. Die Hauptursache des Niederganges dieser Vegetarianerkolonie aber soll hauptsächlich in dem Umstande seine Erklärung finden, daß zwischen dem Eigentümer und noch einem anderen Mitgründer, ebenfalls einem Holländer, Zwiste ausgebrochen seien, die die sonst friedlichen Bewohner des “Monte Verita” in zwei Heerlager teilten.

Deutsches Volksblatt (Wien), 21. Jahrg., 29. August 1909, Nr 7421, S. 21. Online