(Merkwürdige Gesundheitspflege.) In der „K. V. Z“ lesen wir: Es ist gewiß eine hohe sittliche Pflicht, seinen Körper zur Erhaltung der Gesundheit, auch des Geistes zu pflegen; man kann aber in der systematischen Durchführung dieses Gedankens zu weit gehen und auf Abwege geraten, die zu sektiererischen Formen führen und über die Norm des Menschentums ebenso hinausschießen, wie das Leben mit unausgesetzten Diätfehlern und sonstigen Fehlgriffen diesseits besagter Norm bleibt. Kleine Gemeinden solcher Sektierer haben sich in dem letzten Jahrzehnt mit Vorliebe auf dem Boden der freien Schweiz gebildet; der ins bürgerliche Leben übergetretene österreichische Erzherzog war durch seine jetzt von ihm wegen gesundheitsfanatischer Exzentrizitäten getrennte Frau auch in diese Richtung hineingezogen worden. Schreiber dieses sah seinerzeit in Locarno das eine oder andere asketisch magere, ältliche, weibliche, aber nach Erscheinung und Auftreten etwas entweibte Wesen in einer Art Büßerhemd mit Knotenstock und Marktkorb umhergehen, um die diätetisch gar zu eng umgrenzten Lebensmittel einzukaufen, Mitglieder der Sekte, die sich die Lebensfreude gewaltsam austrieben und sie anderen auch zu verleiden suchten. Jetzt wird durch die schweizerische Presse aus Locarno gemeldet, daß die Naturmenschenkolonie vom „Berge der Wahrheit“ eingehen solle. Der Besitzer des Sanatoriums Monte Verità macht bekannt, daß die Kolonie nicht mehr weiter geführt werden könne, weil die Menschen von heute zu verdorben seien, „um zur Urnatur zurückgeführt zu werden“. Er will deshalb sein Unternehmen entweder auf eine andere Grundlage stellen oder die Sache überhaupt aufstecken, wenn er einen Käufer findet. Besagte Kolonie am Monte Verità bei Ascona ist vor einigen Jahren von Deutschen gegründet worden; sie hatte ursprünglich einen Stich ins Kommunistische und hatte sich die schöne Parole „Zur Natur zurück!“ an ihre Bretterwände geschrieben. Ein paar gebildete, geistig hochstehende, physisch nicht ganz normale Leute haben sich ein paar der halbzerfallenen Steinhütten angekauft, die im Tessin so häufig und so billig sind; die Hütten wurden schlecht und recht mit Brettern geflickt; da drin lebte man nun bei Pflanzenkost und Sonnenbädern ein drolliges Dasein. Den Mittelpunkt der Kolonie bildete das Sanatorium Monte Verità; manche „Naturmenschen“, die Extremen, haben sich nach und nach auf eigene Faust angesiedelt, bei Ascona, bei Ronco und auf den Monti von Orselina. Man ist diesen Leuten mit ihrer sonderbaren Tracht und ihrem wirren Haarwuchs, der einen Erlösertypus der modernen Schule darstellen sollte, sogar in der Galerie Vittorio Emanuele in Mailand begegnet und auch über den Gotthard hat sich hier und da ein Exemplar verirrt. Sie haben Lebensziel und Daseinszweck allerdings sehr verschieden aufgefaßt, die Leute vom „Berge der Wahrheit“; es gab fanatische Vegetarianer und Abstinenten neben fröhlichen Säufern, hochgebildete feine Naturen neben wütenden Anarchisten — und wenn man mit einem von diesen Originalen ins Gespräch kam, so hat der Mann sich sicher über seine Kollegen lustig gemacht. Daß eine solche Gesellschaft nicht zusammengehalten werden konnte, läßt sich begreifen; die Disziplin ist nicht die starke Seite von Wolkenkuckucksheim und früher oder später mußte die Kolonie aus den Fugen gehen.
Velberter Zeitung, 28. Jahrg., 6. September 1909, Nr. 209, S. 3. Online