Berge des Friedens

Wem Blut und Sehnsucht ewige Unrast durch die Adern peitschen, der sucht im Grunde seines Herzens die Berge des Friedens. Nicht die Täler des Friedens mit ihrer verträumten Eichendorffschen Romantik. Wir sind ein weitspannendes Geschlecht von Fliegern geworden, Ringer zu höchsten Höhen, Schürfer zu tiefsten Schächten. Aber wir spannen über die Kraft. Darum zittert in unsern Herzen die Sehnsucht nach Frieden. Nach dem Frieden der Berge.

In Ascona-Monti singt Jules Achten, der „Belgische Caruso“, auf dem „Sonnensanatorium“ Lohengrin. Der Saal ist zu klein für seinen mächttgen Tenor, die hohen gelben Pitchpinewände zittern fühlbar unter den Tonwellen, als müßten sie nach den dem Meister geleisteten Resonanzdiensten zerspringen. Die Busen schöner deutscher, belgischer und französischer Frauen wogen auf und nieder und ihre Augen glänzen dunkel, geheimnisvoll, in schwarzem schimmernden Glänze wie in der Tiefe das Sternenlicht und feurige Glut herauffpiegelnde Riesenauge des Lago maggiore.

Ein gewltiges, kilometerlanges Flammenmeer begleitet als gelbrötlich züngelnde Farbensymphonie das Liebeswerben des Gralritters, und lockt Auge und Seele zum Nachgenuß hinaus in die Nacht; wilde Elemente, die das frühlingsgrüne Kleid der Berge zerstören, wie die Mächte der Liebe den Frieden des Herzens. Aber darüber leuchten in Majestät die weißbe schneiten Grate des Monte Gridone im Mond licht; Mondlicht breitet den weißen Königsmantel über alle Bergriesen, die das Juwel des Langen Sees fassen wie erzene Ringe einen Edelstein, vom Kessel Locarnos bis nach dem Monte Nudo hinunter, und sie werden es tun, wenn die Glut auf den Höhen und die Glut in den Herzen längst erloschen ist — bis zum jüngsten Tage. Berge des Friedens!

Ich habe bislang keine Berge und kein Seebecken gefunden, die in der unendlichen koloristischen Mannigfaltigkeit, dem Stimmungsreichtum und der Schönheit der Linie den Lago maggiore, wie man ihn von Ascona-Monti sieht, übertreffen. Der Sänger singt Grieg, — und Ossianische Nebel beginnen zu schwingen aus allen Bergfalten heraus, vom Gridone und durch die Lücken der Gambarognokette herunter. Kalte Fallwinde stoßen sie vorwärts, mit häßlichen nassen Händen wischen sie die leuchtend bunten Tuchfarben der Seeufer hinweg wie unartige Kinder eine schöne Schrift von einer Schiefertafel, und mit fröstelndem Druck legen sie sich uns übers Herz. Aber nicht ohne Poesie. Dann sehen Berge und See mich an mit den toten Augen des Thingvallasees und der Lavakuppen von Thingvellir auf Island, auf denen die Hagel- und Eishexen thronen, unter dessen Boden die Feuerriesen lauern und an dessen Rande man schreitet wie an einem Meere des ewigen Schweigens. Aber die Gewänder der Nebelfrauen zerreißen meistens schnell, denn das Schwert des Sonnengottes lodert im südlichen Tessin schon gar zu mächtig. Durch spinnwebiges Zerflattern drängen sich, mit zartesten Aquarelltönen beginnend, Farbenfluten von unbeschreiblichem Reiz ans Licht, eine Weile noch von den neidischen Händen durcheinandergedrückt, hin und her geschoben, aber dann wie klar ausflatternde Siegesfahnen über Ufer, See und Bergen schwebend, bis die Linie der Kulisse aufs neue ihren Zauber entfaltet hat. In ihrem Abschluß durch die schneebegipfelten Tessiner Alpen mit ihrem edel geschwungenen Kreis und mit der scharfen Überschneidung des Monte Borgna mit seinem charakteristischen Vesuvkegel erinnert sie an die Bucht von Merok.

Den Grundton dieser Farbensymphonie gibt mit eigentümlichem Rotbraun die spärlich begrünte Felswand an, und auch die Formen der Schlüftungen und Kuppen sind die gleichen wie am Loch Kathtin und Loch Lomond.

Der Sänger singt Loewe.
„Der ist in tiefster Seele treu,
der die Heimat liebt wie du —“

Die Fanale flammen, die Stuart und die Douglas kreuzen die Klingen, die Macbeth und Bruce brechen mit Schwett und Dolch die Macht der Clans, und von den braunen Heiden des Hochlandes dampft das Blut der schottischen Geschlechter wie über der Feuerkette am Lago maggiore der Lebenssaft der Edelkastanien. Aus den Glens des Ben Ime und Ben A’an kommen die nächtlichen Schatten der Erschlagenen geschwebt, die auf den Stätten finsterer Bruderfehden und bluti ger Schlachtfelder keine Ruhe finden können, und tauchen hinab zu den Seen, ihre Wunden zu kühlen, ihre Hände zu waschen und dann im geisternden Wolkenmantel weiterzufahren, den Frieden suchend. Aber sie finden ihn nicht, eben so wenig, wie das fahrende Volk der Touristen, denen die schwermütige Poesie des Loch Lomond und die liebliche des Loch Kathrin mit der weißen Hand der „Jungfrau vom See“ nur leise das Herz berührt. Aber in den Dichtungen des großen Walter lebt er und mehr noch in den Liedern des unglücklichen Robert Burns. Er lebte das Leben der Armen und Heimatlosen und er sang es, sowie es auch hier am Langen See zur Gitarre und Mandoline erklingt, des Abends, an diesen unsagbar behaglichen Tessinischen Kaminen, wenn die ärmlichen und mit ihrem Lose doch zufriedenen Talbewohner vor dem flackernden mannsdicken Baumtrumm kauern, ihrer in fernen Ländern nach dem Glück jagenden Verwandten und Freunde gedenken und, um ihre eigenen Augen zu schonen, das an der Gabel über der Flamme schmorende Stück Käse helle Tränen weinen lassen.

Sie müssen wohl wissen oder wenigstens ahnen, daß sie im Schatten der Berge des Friedens wohnen, denn sie sind friedlich unter sich und freundlich gegen den hier angesiedelten Fremden. Nur wenn die politischen oder Kommunalwahlen stattfinden, dann muß man ihnen aus dem Wege gehen. Dann heißt’s : hie Welf, hie Waibling, auf Tessinisch: hie klerikal, hie liberal, dann blitzen nicht nur die Augen, sondern auch die Messer und Revolverläufe, und die allerhöchsten symbolischen Vertreter des Friedens, die Polizisten, bringen die Übeltäter dorthin, wo weder Sonne noch Mond noch Schnee der Berge hineinscheinen, falls sie es nicht vorziehen, schleunigst über die eine Stunde entfernte italienische Grenze auszurücken, am besten auf dem Wege, den der Zollscheinwerfer von Canobbio allabendlich so blendend über den See vorzeichnet. Ja, ein bißchen Blut ist kürzlich hier in Ascona geflossen, und gleichzeitig haben seine Annalen sogar einen wirklichen Geheimpolizisten zu verzeichnen gehabt, der etwas Anarchistisch-Internattonales hier festnehmen wollte — es ist aber nichts daraus geworden.

Aber am allerfriedlichsten ist das Völk chen, das sich in Monti angesiegelt hat. Ascona stand eine Zeit lang wegen seiner „Naturmenschen“ in keinem besonderen Ruf und nach dem, was ich hier und dort habe erzählen hören, mag manches wohl unter die Kategorie fallen, von der Wilhelm Busch sagt:
Es gibt ja leider Sachen und Geschichten,
Die reizend und pikant.
Nur werden sie von Tanten und von Nichten
Niemals genannt.

Busch fährt dann fort mit dem Beispiel vom Käse, den man zwar liebt, aber zudeckt. Ich folge ihm und bemerke nur, daß von dieser Sorte „Natumenschen“ keiner mehr existiert, sondern im allgemeinen bekleidete Leute, die in manchen Punkten mit den Anschauungen und Gefühlen der großen Kultur ihren Frieden gemacht haben und nur noch — zum geringen Teil — ihre eigenbrödlerische Natur durch einen ungewöhnlich langen Haarwuchs in Verbindung mit mangelnder Kopfbedeckung ausdrücken.

Mir taten es also nicht die bewußten „Sachen und Geschichten“, sondern die unvergleichlich schöne Lage und der wahrhaft himmlische Friede dieser kleinen Bergkolonie an, nachdem ich die anderen oberitalieuischen Seen nach einem dauernden buen retiro durchstreift hatte. Als ich hier zu bleiben beschloß, war es ein Tag wie der, als ich zum erstenmal die „Blue Mountains“ von Jamaika vor mit aufsteigen sah, diese tropischen Berge des Friedens — ein Tag der gleichen Sonne, der gleichen Farben- und Blütenpracht. Ich schrieb meine Gefühle auf das erste beste Stück Papier, und will auf die Gefahr, mich zu wiederholen, damit schließen:
Hier ist alles Leidens Gruft,
Alles muß zum Lichte drängen,
Liebe zittert in der Luft
Und die Seele von Gesängen.

Wilhelm Poeck, Mährisches Tagblatt (Olmütz), 33. Jahrg., 19. August 1912, Nr. 187, S. 1-2. Online

Wilhelm Poeck, Der Bund (Bern), 33. Jahrg., 23. August 1912, Nr. 395, S. 9. Online

Vgl. zu Wilhelm Poeck beispielsweise den Eintrag Wilhelm Poeck in der deutschsprachigen Wikipedia.