Im vergangenen Herbst war’s. Da kletterte ich von Ascona aus das steile, stellenweise holprig gepflasterte, oft mit Gras und kargem Gesträuch halb überwachsene Weglein hinauf, das zu der Ansiedlung der Naturmenschen auf dem Monte Verità führt. Ich hatte schon so vielerlei über diese Kolonie gehört, dass ich es mir nicht versagen konnte, sie aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Des Neuen und Interessanten entdeckte ich Mannigfaltiges.
Nachdem ich lange genug herumgekraxelt war, liess ich mich, müde von den vielen fremdartigen Eindrücken und hungrig, in dem gemütlichen Saal des öffentlichen vegetarischen Restaurants nieder und beguckte die Speisekarte.
Ah, was es da für schöne Dinge gab! Man musste nur staunen. Dürre Bananen, Banänenkakao, Feigen, Feigenkaffee, Datteln, Schrotbrot, Nussbutter, Fleisch-Ersatz, Granola, Sanitätszwieback, Kamillen-, Linden-, Münz-, Apfel- und sonstige Tees die Menge, natürlich auch koffeinfreien Kaffee, alkoholfreie Weine — kurz, wer nicht ein unverbesserlicher Fleischesser und eingefleischter Alkoholiker war, konnte schon auf seine Rechnung kommen. Des Kuriosums wegen bestellte ich Nussbutter mit Schrotbrot und, um die ziemlich trockene Kost hinunterzuspülen, Apfeltee, ein mir bisher auch unbekanntes Getränk. Nun, man konnte es trinken! Nur durfte man dabei nicht allzusehr an die süssen Sünden des zu Hause so reichlich genossenen chinesischen Tees denken, an sein zartduftendes Aroma, sonst…
Das mich bedienende Mädchen war jung und hübsch, in ein schneeweisses, loses Gewand gekleidet, dessen Falten dicht unter der Brust durch einen goldgewirkten Gürtel zusammengehalten wurden. Die weiten offenen Ärmel liessen die schönen Arme frei. Die nackten Füsse steckten in sandalenartigem, mit Goldschnüren verflochtenem Schuhwerk. Diese moderne Griechin lieess ihre weissen Zähne sehen und sprach in reinstem Deutsch, wohl akzentuiert: “Darf ich Ihnen zum Tee vielleicht einige Cakes bringen?”
Nun endlich sind wir am Punkte angelangt, wo meine Weisheit zu Ende war. Cakes? Was war denn das für ein Ding? Wohl hatte ich den Ausdruck auch schon irgendeinmal in grauer Ferne gehört. Aber was in aber Welt bezeichnete er? Ich liess rasch alle die eben studierten, alleinseligmachenden Genussmittel Revue passieren. Aber nein, das fragliche Wort musste ich übersehen haben; es war in meinem Gedächtnis nicht vorhanden. Diese Cakes mussten sehr wahrscheinHch irgendein Etwas sein, das unbedingt mit zum Genuss von Apfeltee gehörte, vielleicht eine Art Zucker, dem die “schädlichen” Substanzen entzogen worden waren, oder so was ähnliches.
Das Fräulein wiederholte die Frage. Hastig beantwortete ich sie mit: “Ja, bitte!” Mit einiger Ungeduld, ich muss es gestehen, erwartete ich die mysteriöse Apfeltee-Zutat. Da setzte die Weissgekleidete mit zierlicher Bewegung einen Teller voll — Stengel, Biskuits, vor mich hin. Also das war des Rätsels Lösung. Etwas, das ich schon unendliche Male mit Vergnügen geknabbert hatte, ohne dabei je ein besonderes Bedürfnis nach einer fremdartigen Bezeichnung zu empfinden: Biskuits, Gebäck, Stengelchen genügten meinen Ansprüchen völlig. Aber Cakes — ja, allerdings, das tönte vornehm, mit einem kleinen Anklang an die grosse Welt. So ladylike… an Plumcake erinnernd kurz, an die ganze englische Bildung, die man ehedem so hoch schätzte in Deutschland. Ich tunkte die Dinger mit verdoppeltem Eifer in meinen kuriosen Apfeltee, den ich ganz trinkbar gefunden hatte, wäre nur die leiseste Spur von Apfelgeschmack darin vorhanden gewesen.
Elisabeth Wirth, in: Schweizerische Lehrerzeitung, 61. Jahrg., 18. März 1916, Nr. 12, S. 109-110. Online.
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