Präsident der August-Thyssen-Bank Baron von der Heydt in Wien.
Der Mann, der einen Berg gekauft hat, noch einen der schönsten und eigenartigsten dazu, ist Baron von der Heydt, Präsident der der August-Thyssen-Bank in Berlin, den die Kunstwelt als einen der prominentesten Ostasiensammler Europas kennt. Ein Mäzen der schönen Künste übrigens, der seine Schätze nicht eifersüchtig verborgen hält; die einzigartigen Kostbarkeiten, die Baron von der Heydt in jahrelanger Arbeit zusammengetragen hat, sind der Allgemeinheit in großzügigster Weife zugänglich gemacht. Der größte Teil seiner Sammlungen befindet sich im Ostasiatischen Museum in Berlin, aber auch die Museen von München, Köln, Frankfurt am Main, Zürich, Paris und Amsterdam zeigen seine wertvollen Leihgaben. Eines der interessantesten Besitztümer des Barons von der Heydt, der in den nächsten Tagen nach Wien kommt, um am 10. September im Kulturbund einen Vortrag über das Thema “Wikinger und Inder” zu halten, ist aber sein Monte Verita, der Berg der Wahrheit am Lago Maggiore. Ein Hügel, der eine seltsame, wechselvolle Vergangenheit aufweisen kann und der heute durch ein neues, modernes HoteI seine eigentliche Krönung erfahren hat.
Berg der Glücklichen
Die Fremden, die nach Ascona im Tessin kommen, wo der Monte Verita inmitten einer tropischen Vegetation aufsteigt, nennen den Berg einen “erdgewordenen Traum”. Dasselbe sagte der junge Belgier Henry Oedenkoven, der Sohn eines reichen Industriellen, der im Oktober 1900 mit acht Freunden in Ascona eintraf. Es waren junge Leute mit neuen, kühnen Ideen, die fernab von Luxus und Armut der Welt eine Siedlung gründen wollten, eine Kolonie der freien und glücklichen Menschen. Auf neuem Boden sollte eine neue Welt erstehen. Der Monte Verita mit seiner herrlichen Aussicht und Ruhe schien ihnen das richtige Eiland. Allerdings war der Monte Monescia, wie er damals noch hieß, steiniger, unfruchtbarer Boden, aber gerade die Aussicht, aus diesem Hügel einen Zauberberg zu machen, lockte Oedenkoven und seine Anhänger.
Aus dem Monte Monescia wurde der Berg der Wahrheit, wie ihn nun auch Behörden und später die Tessiner zu nennen begannen. Ein Gemeinschaftshaus und Hütten wurden errichtet, der Boden bebaut, Hunderte von Obstbäumen und Palmen gepflanzt. Tagsüber rang man dem Boden seine tropischen Schätze ab, die Abende wurden Diskussionen über Theologie, Spiritismus und Kunst gewidmet. Der Ruf der neuen Kolonie drang weit hinaus. Ein Zustrom aller Arten von Menschen begann, es kamen Idealisten und Abenteurer, Propheten und Dichter. Auch verschiedene prominente Gäste sah der Berg der Wahrheit, Isadora Duncan, Eugène d’Albert, Trotzki, Lenin, Emil Ludwig erschienen zu kurzen Besuchen.
Tempel des Ordens vom Osten
Bald aber entstanden unter den Kolonisten, die die Freiheit mißverstanden und ihr Eigenleben führen wollten, Streitigkeiten. Oedenkoven, der ungekrönte König der Siedlung und des Berges, konnte bei seinen Jüngern nicht durchsetzen, daß sie tierische Produkte und Salz mieden und keine Wollstoffe trugen. Und da Oedenkoven seine Anhänger nicht bekehren konnte, bekehrten die Anhänger ihn; er, der erbitterte Feind der Ehe, heiratete schliesslich und auch seine vegetarischen Ideale begrub die Zeit.
Eines Tages erschien auf dem Monte Verita ein gewisser Theodor Reuß und gründete einen Tempel: O. T. O., den Tempel des Ordens vom Osten nannte er ihn. Dieser neue “Messias” verstand mit der ihm innewohnenden, suggestiven Kraft alle Kolonisten zu beherrschen. Reuß hielt Vorträge über seine Kraft der 94 Grade, die übernatürlichen Ziele, die er verfolgen könne und es gelang ihm auch, den leichtgläubigen Besuchern des Berges mit biesen Mätzchen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Reuß verschwand später wieder, aber die Bauern der Gegend bekreuzigen sich heute noch, wenn man vom O. T. O. spricht.
Finanzielle Schwierigkeiten zwangen Oedenkoven nach dem Weltkriege, die kollektive Gemeinschaft auf dem Berge der Wahrheit aufzulösen. Er verließ den Hügel und reiste nach Brasilien, um eine neue Kolonie zu gründen, die noch heute besteht. Baron von der Heydt, der sich zu jener Zeit am Lago Maggiore aufhielt, faßte nun den Entschluß, den Monte Verita zu kaufen und die Ideen Oedenkovens in neuer, zeitgemäßerer Form fortzusetzen. Er ließ auf dem Berg ein modernes Hotel bauen, einen herrlichen Park anlegen, kleine Bungalows errichten. Die berühmte Sammlung des Besitzers lieferte einige antike Gottheiten, die in den romantischen Promenadenwegen aufgestellt wurden. In der Nähe des Hotels hat Baron von der Heydt ein kleines Häuschen für sich bauen lassen, die Casa Anatta, die alte Gemälde und kostbare Gobelins, ebenfalls aus den Schätzen des großen Sammlers, beherbergt, ein kleines Museum auf dem Berge der Wahrheit, der nach stürmischen Jahren wieder zu der Ruhe seiner Vergangenheit zurückgefunden hat.
Neues Wiener Journal, 42. Jahrg., 30. November 1934, Nr. 14738, S. 5. Online