Im Süden

von
Klabund (Locarno)

Der sogenannte Süden nimmt sich dieses Jahr gar nicht so südlich aus. Die Assoziationen: Zypresse … Spitzbergen, Smnaragdeidechse … Polarhund häufen sich. Als ich ankam, lag Schnee auf den Palmen, und die Mimosensträucher zitterten vor Kälte. Jetzt wird’s mählich wärmer und mit der Wärme der Landschaft und den Magnolienblüten scheint neue Wärme auch den Herzen zu entknospen. Wird guter Sommer? Werden wieder gute Menschen?

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Die italienische Grenze ist ein paar Kilometer von hier. Man geht an die Grenze und betrachtet sich die italienischen Grenzsoldaten verwundert wie exotische Tiere. Auf einer steinernen Brücke hinter Brissago, die vielleicht ursprünglich von den Etruskern herrührt, ist die Scheide zwischen Schweiz und Italien, Friede und Krieg, Lust und Ekel, Sattheit und Hunger, Lied und Leid, Leben und Tod.

Der Italiener mit dem aufgepflanzten Bajonett rennt bis in die Mitte der Brücke und wieder zurück: wie ein Löwe in einem Käfig, hin und her, unaufhörlich. Wie die Löwen, die ich im Teatro Locarnese sah. Ach, sie wissen es nicht die Tiere, daß wir die Gefangenen sind und sie, in allen Fesseln, die Freien …

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Auf dem Monte Verita bei Ascona wohnen die, welche die Wahrheit gefunden haben. Die Wahrheit kostet, in einem kleinen möblierten Holzhaus geboten jährlich 300 Franken. Die Verpflegung, die einen auf Wunsch von den Wächtern der Wahrheit besorgt wird, besteht aus Nüssen, Früchten und Salat. Man geht tunlich in Sabdalen und griechischen Gewändern Das ist gesund und« soll griechische Gestalten gut kleiden. Nachkommen leiblich oder geistig zernagter Großstadtmenschen nehmen sich mit Glatze und Hornbrille, äffisch langen Armen und gebogenen Beinen wie Offenbachische Operettenfiguren aus. Pallenberg, in der Rolle eines Asconesen! Eine zwerchfellerschütternde Vorstellung.

Damit will ich nichts gegen die Menschen “an sich” sagen. Sie leben fröhlich und freundlich in Tag nnd Mühe hinein. Hübsche Kinder spielen zwischen ihnen. Und manchmal ein österreichischer Minister a. D. oder ein abgedankter preußischer Major.

Der viele Salat, das bescheidene Herumhüpfen in der Natur, und manches andere erwecken den Eindruck eines Kaninchen-Daseins in mir. Denn: der Irrtum aller tendenziösen und praktischen Theoretiker tritt hier zutage: man wird noch nicht dadurch zum natürlichen Menschen, daß man sich nackt in eine Wiese legt und natürlich “tut”.

Natürlich sein das ist denn doch etwas, anderes: es ist· ein geistiges Geschenk, eine Gabe des Gottes. Um natürlich zu sein, brauche ich mich meiner karierten Reithose oder meines Frackes durchaus nicht zu entledigen. Ich brauche auch nicht auf den (zugegeben: herrlich gelegenen) Monte Verita zu klettern. Die Aussicht auf die Wahrheit kann ich auch von einer Dachluke der grauen Großstadt aus gewinnen.

Vorausgefetzt, daß ich das Auge habe, sie hinter allen Schleiern von Sais zu erkennen.

Oesterreichische Morgenzeitung und Handelsblatt, 22. April 1917, Nr. 111, S. 2. Online