Ascona liegt an dem Strand des schönen Lago Maggiore in der italienischen Schweiz. Eine ideale Landschaft, von felsigen Bergen und Wäldern umrahmt, die an Rübezahlmärchen erinnern.
Als man sich in den letzten 20—30 Jahren an allen Ecken und Enden der Welt religiösen Phantasien hingab, entstand auch in dem kleinen Dorf eine religiöse Kolonie. Die Begründer waren komische Käuze: ein Carlo Grässer, ein ehemaliger ungarischer Oberleutnant aus Oedenburg, der sich schon in frühester Jugend mit Welterlöser-gedanken herumtrug. Nach dem Tode seiner Eltern verteilte er sein Vermögen, weil er das Geld für sündig hielt, und trat aus dem Militärdienst. Er bewog zur gleichen Tat auch seine beiden Brüder und einen jungen Militärarzt Skarvan, der mit der Begründung seinen Dienst verließ, dass ein reiner Mensch keinem Staat dienen darf. Scarvan wurde später durch den Gnostiker Eugen Heinrich Schmidt (ein persönlicher Freund Tolstois) beeinflusst. Sie wollten eine idealistisch-anarchistische Kolonie gründen und gewannen für ihre Pläne einen belgischen Millionär namens Oedenkoven, von dem man sich erzählte, dass er von Krankheiten befallen sei und sich durch das idealistische Leben reinigen wollte. […]
Die Phantasten zersplitterten sich sehr bald. Die Grässers lösten sich als erste von der Gemeinschaft, Carlo versuchte, Geschäfte zu machen und lockte reiche Leute in die Kolonie. Das freie Leben lockerte alle seine Hemmungen. Er peinigte seine Frau so lange, bis sie verrückt wurde. Die Ideale steckte er auf und arbeitete an Entdeckungen, mit denen er sich ein Vermögen erwerben wollte. […]
Der erste Mensch, dem ich in Ascona begegnete, war ein Bruder des Begründers, Gustav Grässer. Er studierte Philosophie und warf unter dem Bann des Ideals seine Studien über den Haufen und wurde Landstreicher. Mit 40 Jahren passierte dem guten Gustav ein Unglück. Er machte die Bekanntschaft einer Hellseherin, die 8 Kinder hatte und nun reiste die ganze Familie von Stadt zu Stadt. Der Geist war aber bei ihnen zu vielzählig, und sie hungerten manchmal. […]
Nach dem Kriege ging es mit Grässer wieder aufwärts. Er trennte sich von seiner Kameradin und zog als Buße für das große Vergehen der Menschheit eine Mönchskutte an. Nun durchpilgert er alle Städte Deutschlands und predigt, dass nur durch rhythmischen Tanz die Menschheit genesen könne.
Zurzeit hält Gustav Grässer sich in Berlin auf, wo er zum Gaudium der Kinder durch die Straßen spaziert, Predigten gegen Häußer hält, den er für einen Charlatan hält und seine phantastischen Sprüche verkauft. Die Straßenkinder in Berlin haben ihm den Namen „Kartoffelchristus“ und „M. d. W. – Messias des Westens“ gegeben.
Emil Szittya, Berliner Börsen-Courier, 53. Jahrg., 8. Juli 1923, Nr. 515, 1. Beilage, S. 5-6.